Als Strategie gegen die dominante Ordnung des Kapitalismus forderten die Situationisten im Vorfeld der 1968er Bewegungen die konsequente Hinwendung zum Alltag. Absichtslose Streifzüge durch die Strassen und Quartiere von Paris war die von ihnen bevorzugte Praxis, um das reibungslos funktionierende Spektakel der Stadt-Maschine zu sabotieren und die Routinen der Wahrnehmung zu untergraben. Im ziellosen Umherschweifen nimmt das Geschehen im Raum laufend überraschende Wendungen, bilden Fragmente des Alltags – vielleicht vergleichbar mit der Montage beim Film – ständig neue Bedeutungen. Auf den von Guy Debord gestalteten Karten wird die Stadt zur Collage frei kombinierbarer Schnipsel unterschiedlicher Pläne, die mit roten Pfeilen andeutungsvoll in Bezug zueinander und in Bewegung versetzt sind (2). Auch ein weiterer Mitbegründer der Situationistischen Internationale, der Künstler und Architekt Constant [Nieuwenhuis], benutzte in den 1960er Jahren Stadtpläne von Paris, Brüssel und Amsterdam, um eine Vision der Stadt der Zukunft darzustellen. Seine Pläne zeigen rhizomartig verästelte Strukturen entlang bestimmter Verkehrsachsen oder Geländestrukturen, wo sich die Stadt verdichtet und von mehrschichtigen Nutzungen überlagert wird, während die homogenen Flächen dazwischen an Bedeutung verlieren. Constants New Babylon organisiert sich entlang von Beziehungen, Kontakten und Informationsflüssen. Scheinbar objektive Strukturen wie Peripherie und Zentrum verlieren jegliche Bedeutung. Die territoriale Integrität, durch die sich Staaten, Bezirke und Städte auf ihren Gebieten gleichsam naturalisiert haben, löst sich in den subjektiven und partikularen Interessen auf. Das Nebeneinander von völlig gegensätzlichen individuellen Realitäten, die letztlich unkontrollierbaren und unbekannten täglichen Verrichtungen und Entscheidungen von Millionen von Menschen stellt auch Michel de Certeau ins Zentrum seiner Überlegungen zur Kunst des Handelns.(3) Die unzähligen geheimen Taktiken des Gebrauchs, der Umnutzung und Umdeutung, von denen das tägliche Handeln der Einzelnen in der Masse geprägt ist, stellt letztlich jeden Masterplan in Frage.
Das zunehmende Interesse an Karten und Strategien des Mappings in der Kunst seit den 1960er Jahren ist denn auch Ausdruck eines sich radikal verändernden Blicks auf Stadt, städtischen Raum und Landschaft, wo soziale und politische Dimensionen und Prozesse ins Zentrum des Interessens rücken. Die französische Künstlergruppe „Bureau d’études“ versucht seit 2002 die den öffentlichen, gesellschaftlichen Raum durchdringenden Systeme und Prozesse der Globalisierung in Karten zu erfassen. Die einzelnen Pläne bilden zum Beispiel Netzwerke von grossen Konzernen ab, zeichnen den globalen Komplex der Finanz-, Medien- oder Bioindustrie nach oder stellen die komplexen Zusammenhänge von Gruppen und Initiativen, die in der Anti-Globalisierungsbewegung aktiv wurden, dar.(4) Die Mappings von „Bureau d’études“ sind aber nicht in erster Linie als Orientierungshilfe in realen sozialen Beziehungsnetzen oder Topographien der Macht gedacht, ihre Stärke liegt vielmehr darin, neue diskursive Zusammenhänge darzustellen, Themen zu setzen und verhandelbar zu machen. Eine Karte von 2008 handelt etwa vom Complex of the self und stellt die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Doubles wieder her, die von uns in den unterschiedlichsten Sphären von der Verwaltung über das Gesundheitswesen und den Konsum bis zur Telekommunikation existieren und ihr Eigenleben führen. (5)
Karten können nicht einfach nur als Bild betrachtet oder als Text gelesen werden. Sie verfügen sowohl über die visuell gestalterische Qualität von Bildern als auch über die semiotisch narrative Struktur von Texten. Karten müssen interpretiert werden. Um Karten lesen zu können, braucht es die Kenntnisse der sozialen und politischen „Grammatiken“, die sich hinter den verwendeten Zeichen und Symbolen verbergen. Christine Buci-Glucksmann beschreibt Karten als ein Modell eines sehenden Wissens. "Gedruckt, gezeichnet, gemalt, als Kunstwerk oder strategisches Objekt ist die Karte gleichzeitig multifunktional und multitemporal, eine nicht-hierarchische Verzweigungsstruktur, in der Lokales mit Zentralem, Gedächtniskunst mit Handlungsverläufen koexistieren."(6) Auf Grund ihrer ambivalenten Natur in Erscheinung und Praxis, zwischen Information und Gebrauch eignen sich Karten also ganz besonders als künstlerische Strategie zur Repräsentation komplexer gesellschaftlicher Räume.
Bei den zahlreichen künstlerischen und aktivistischen Mappings, die in den letzten Jahren entstanden sind, nehmen Protest Maps eine zentrale Stellung ein. Durch das Einschreiben von zusätzlichen Informationen und die Darstellung von sonst verborgenen Zusammenhängen sind die Karten dazu gedacht, neue Einsichten und Erkenntnisse zu vermitteln und das Verhalten zu verändern. „Big Brother Awards Schweiz“ produzierte 2004 ein Karte von Überwachungskameras in Zürich mit Schwerpunkt Zürich Aussersihl und Hauptbahnhof Zürich. Die Karten können online eingesehen oder heruntergeladen und ausgedruckt zum praktischen Mitnehmen gefaltet werden. (7)
In einer Form von militanter Kartierungspraxis versuchte die aktivistische Künstlergruppe „Gruppo de Arte Callejero“ aus Argentinien mit ihren Stadtplänen, auf denen die Adressen von nie zur Rechenschaft gezogenen Massenmördern aus der Zeit der Diktatur markiert sind, gezielt die Bevölkerung einzelner Stadtteile für politische Aktionen zu mobilisieren. „Karten erstellen ist eine Aktion der Erkenntnis; es kann eine Wissenserweiterung sein, ein Werkzeug zur Aneignung und Beherrschung, eine Denunziation, ein Plan zur Sabotage, eine Form der Verheimlichung und anderes.“ (8)
Auch in den sans papiers cartographes werden das strategische Potential von Karten und der Anspruch der Sichtbarmachung von spezifischem Wissen eines Netzwerks von Akteuren auf gelungene Art und Weise miteinander verbunden. Die zentrale, in den Plan von Paris eingeschriebene "axe du pouvoir" – schematisch als ein Pfeil dargestellt, auf dem sich Monumente des französischen Empire von Notre Dame über die Pyramide du Louvre und den Arc de Triomphe bis zum Schloss Versailles aneinander reihen – wird symbolisch durchkreuzt von den Demonstrationen der Sans-Papier-Bewegung und umzingelt von ihren Kirchenbesetzungen, die auf der interaktiven Karte wahlweise angezeigt werden können. (9)
Während die von KünstlerInnen geschaffenen Karten der 1960er und 1970er Jahre dazu dienten, die auf dem Plan der Zeit rational und übersichtlich erscheinende Realität durch individuelle Eintragungen und Überschreibungen zu verwischen, steht bei Mapping-Strategien, wie sie in den letzen Jahren in künstlerischen und aktivistischen Projekten häufig eingesetzt werden, der Prozess einer kollektiven Organisation und strategischen Darstellung von Informationen im Zentrum. Beide Ansätze basieren auf einem kritisch reflektierten Verhältnis gegenüber der Kartografie und ihren Techniken der Darstellung. Das künstlerische Mapping ist demnach eine Methode, eine Technik der Analyse und der strategischen Repräsentation. Die kontinuierliche Arbeit an der Anordnung von Informationen, Hinweisen und Geschichten durch Reihungen, Schichtungen, Vernetzungen, Kategorisierungen, Gewichtungen und Ins-Verhältnis-Setzen erlaubt andere Formen der Vergegenwärtigung von Ereignissen und Zusammenhängen. Als Prozesse der Wissensproduktion in Kooperation zwischen Akteuren aus unterschiedlichen Bereichen ermöglichen Mappings die gemeinsame Aushandlung von Begriffen, Bildern, Bezeichnungen und Bedeutungen. Dabei entsteht eine Art Koordinatensystem, an dem sich zukünftiges Handeln orientieren kann. Ergebnisse von Mappings sind strategische Darstellungen, Kontextualisierungen von Wissen, in denen die dargestellten Zusammenhänge auch über den Kreis der involvierten ExpertInnen hinaus zur Disposition gestellt und verhandelbar gemacht werden. Viele dieser Kartierungen entwickeln und erneuern sich quasi selbständig in einem kollaborativen, kommunikativen Forschungs- und Entwicklungsumfeld, das sich innerhalb und außerhalb der Neuen Medien generieren und erweitern lässt.
Das Projekt MigMap – Governing Migration wurde 2004 - 2006 in einer interdisziplinären Zusammenarbeit von KulturproduzentInnen aus dem „Labor k3000“ und einem Team von SoziologInnen, PolitologInnen und KulturwissenschaftlerInnen der Uni Frankfurt entwickelt und realisiert. Ziel war es, die bis dahin kaum erfassbaren Strukturen und Funktionsweisen einer zunehmend europäisierten Migrationspolitik anschaulich und verhandelbar zu machen. Mapping wurde dabei zugleich als Arbeitsmethode als auch als Visualisierungs- und Vermittlungsstrategie verwendet.(10) Erst durch den Versuch, einzelne Aspekte des neuen Regimes darzustellen, ergaben sich auch die definitiven Forschungsfragen und Kriterien für die Recherche. Die entstandenen Maps schliesslich haben eher den Status von Thesen, die seither in unterschiedlichsten akademischen und aktivistischen Kontexten aufgegriffen, weiterdiskutiert und weiterentwickelt worden sind.
Die Konjunktur von Mappings im aktivistischen, kulturellen und kulturwissenschaftlichen Umfeld muss auch parallel zur Entwicklung von elektronischen Mappingsystemen und Navigationstools gesehen werden. Die „neue Macht“ der Karten im Internet basiert auch auf den vereinfachten technischen Möglichkeiten, beispielsweise indem elektronische geografische Daten (GIS - Geografic Information System) mit beliebigen Informationen und statistischen Daten kombiniert werden. Während die Projektion von statistischen Daten zu beispielsweise der Bevölkerungsentwicklung und den Einkommensverhältnissen auf bestimmte Territorien (z.B. Bezirke, Gemeinden oder Stadtteile) immer schon den unheimlichen Effekt zeigte, durch Darstellung flüchtige und punktuelle Erhebungen in faktische Verhältnisse zu transformieren, bieten die neuen, datenbank- und netzwerkgestützen Technologien nun zusätzlich die Möglichkeit, gleichsam live zu verfolgen, wie sich beispielsweise das BIP einer bestimmten Nachbarschaft verändert. Der elektronische Stadtplan kann im Prinzip alles gleichzeitig leisten, er zeigt den Weg, gibt Einkaufstipps, informiert über Sitten und Bräuche der Bewohner und warnt, wenn ein Gebiet betreten wird, das eine deutlich überdurchschnittliche Kriminalitätsrate aufweist. Auf der Website von „EveryBlock Chicago“ kann jederzeit nachgesehen werden, wo in den letzten 24 Stunden ein Verbrechen stattgefunden hat. Kleine Fähnchen markieren den Ort, wo ein Diebstahl, ein Überfall, ein Mord oder eine Vergewaltigung passiert ist. In maximaler Zoomauflösung kann die Internetöffentlichkeit verfolgen, wie sich die leeren Strassen Chicagos langsam aber sicher mit den bunten Fähnchen des Verbrechens füllen.(11)
Deutlich reflektierter positioniert sich da ein Kartierungs-Projekt, das die Künstlerin und Musikerin Michaela Melián im Rahmen eines Kunstwettbewerbs der Stadt München zu Opfer des Nationalsozialismus - Neue Formen des Erinnerns und Gedenkens 2008 realisiert hat. Memory Loops ist ein virtuelles Denkmal für die Opfer des Nazionalsozialismus. Über eine Webseite können zu mehreren hundert Adressen und Orten in der Stadt München authentische Berichte aus der Zeit in Form von kurzen Audioloops abgerufen werden. Zitate aus Zeitungsartikeln und Radiomeldungen, Passagen aus Briefen und Notizen, nachgesprochen mit Stimmen von Kindern und Jugendlichen führen die HörerInnen mitten in den beklemmend normalen städtischen Alltag nationalsozialistischer Ideologie. (12)
Datenbankgestützte partizipative Mappingansätze, beispielsweise durch die Verwendung von "Participatory GIS (PPGIS)" und Internet, eröffnen künstlerischen und aktivistischen Strategien, die dezidiert an einer Multiakteursperspekive interessiert sind, ganz neue Perspektiven. Im Internetprojekt This was Tomorrow von „Labor k3000“ findet das Mapping von Städten Europas und Nordafrikas durch das Zusammentragen von Videos statt, die die BewohnerInnen von Grosssiedlungen der 1960er und 1970er Jahre online gestellt haben und damit über ihren Alltag in den von Politik und Medien oft abgewerteten und problematisierten Stadtteilen berichten.(13) Die BewohnerInnen mit ihren vielfältigen Taktiken der Aneignung und des Gebrauchs haben längst ihre eigenen Antworten auf Anrufungen durch technokratische Planungen gefunden. Im rationalen Grid des Masterplans der Moderne hat sich eine nicht mehr überschaubare Vielfalt von Kulturen und Ausdrucksformen eingenistet und das Urbane von Innen heraus neu definiert; ein wenig so, wie sich die Situationisten in ihren Abschweifungen die Stadt von morgen auszumalen versucht haben.
1 Yoko Ono, Map Piece. 1962.
2 G. - E. Debord, Naked City - Illustration de l'hypothése des plaques tournantes en psychogéographique, 1957.
3 Michel De Certau, Kunst des Handelns. Merve Berlin, 1988.
4 http://bureaudetudes.org
5 http://bureaudetudes.org/files/2010/01/SelfEconomy2008.pdf
6 Christine Buci-Glucksmann, Der kartographische Blick der Kunst. Merve Berlin 1997, S. 30.
7 http://www.bigbrotherawards.ch/doc/cctv/html/index.html
8 www.exargentina.org/Kongress/Kartographie. Grupo de Arte Callejero: Kartographische Überlegungen I, 21.09.2004.
9 http://www.moneynations.ch/cartographes/dossier/
10 http://www.transitmigration.org/migmap
11 http://chicago.everyblock.com
12 http://www.memoryloops.net
13 http://www.this-was-tomorrow.net