home news economies landscapes, leisure and tourism cultural practices images sites editions texts identities index contact
back text
Kunst und Tourismus
Eine Versuchsanordnung zur Alltagskultur des ausseralltäglichen Erlebens.
Peter Spillmann

Entstanden im Rahmen des Forschungsprojekts Kunst & Tourismus an der Hochschule Luzern – Design & Kunst 2007
Referat im Rahmen der Tagung "Über die Grenze, Vermessung einer Kulturlandschaft", Verband Österreichischer Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker und Vereinigung der Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker der Schweiz, Kunsthaus Bregenz 2007
Peter Spillmann

Design, Architektur und Bildende Kunst erfahren im Tourismus eine neue Hochkonjunktur. In dem sich zunehmend diversifizierenden Freizeit- und Ferienmarkt dient die Kulturalisierung der Ausdifferenzierung eines neuen „Qualitätstourismus“. Traditionelle Destinationen etwa im alpinen Raum sollen dadurch für neue Zielgruppen wieder attraktiv gemacht werden. Angesprochen ist in der Regel eine urbane, mobile Elite von Besserverdienenden. Während die Aufwertung des touristischen Erlebnisses durch Hight Art und Kultur vorallem auch der Legitimierung höherer Preise dient und damit zur Refeudalisierung ganzer Destinationen beiträgt, werden die Ferienkulturen der Massen, wo Sonne, Parties, Pop und Events im Vordergrund stehen, aus kultureller Perspektive, aber auch von Seiten der Tourismusforschung traditionell eher kritisiert, abgewertet und in Medienberichten oft sogar skandalisiert. Im touristischen Alltag findet eine ganz spezielle Form des “Kulturkampfs” statt. Um diese Zusammenhänge etwas genauer erfassen und interpretieren zu können, untersuchten wir an der Hochschule Luzern mit einem Team von Kulturschaffenden, KulturwissenschaftlerInnen und Studierenden während einem Jahr aktuelle Projekte in alpinen Erlebniswelten an der Schnittstelle von Kunst und Tourismus. Unser Forschungsgegenstand sind künstlerische oder kunstnahe Ausdrucksformen und Performanztechniken in touristischen Erlebniswelten, die dabei jeweils verwendeten Kultur- und Kunstbegriffe und die unterschiedlichen Motivationen und Motive der Beteiligten. Wir haben unter anderem mit verschieden positionierten Akteuren aus den Bereichen Kunst und Tourismus Interviews geführt, zwanzig zum Teil sehr unterschiedliche Kunstprojekte oder “Kunsteinsätze”, ihr Kontext und die dahinterstehenden Akteure recherchiert und vier Projekte im Sinne von Fallstudien genauer angeschaut.[1] Dabei stellten wir fest, dass Kultur und Kunst in touristischen Kontexten zwar oft von aussen kommen, die touristischen Erlebniswelten aber nicht etwa von urbanen Akteuren und deren Expertisen “kolonisiert” werden, sondern längst eigenständige „Kunstformen“ hervorgebracht haben, die zwischen Populärkultur und Hochkultur nicht mehr unterscheiden und deren Qualitätsbewertung auch nicht von kunstwissenschaftlichen oder ausschliesslich ökonomischen Kriterien sondern vielmehr von der jeweils spezifischen Akteurskonstellation der Initiatoren, der Produzenten und ihres Publikums abhängig ist.

Momentan sicher augenfälligster und spektakulärster Ausdruck von Kulturalisierung touristischer Destinationen in den Alpen ist das Revival der Grand Hotels. Wo immer die UFO’s der Belle Epoque überlebt haben, laufen im Moment Bestrebungen, sie in noble fünf Sterne Hotels um- oder besser rückzubauen. Projekte in St.Moritz, Davos oder Zuoz folgen dabei einem ähnlichen Konzept. Die Rekapitalisierung der oft seit Jahrzehnten verschuldeten Betriebe erfolgt über den Verkauf von Luxusappartments in den oberen Etagen des Hauses oder in einem neu zu bauenden Annex.
Im Projekt von Herzog & de Meuron für das Hotel Schatzalp über Davos ist direkt neben dem alten Hotel die Errichtung eines Turmes vorgesehen.[2] Seine Höhe von 105 Meter entspricht der Länge des ursprünglich als Sanatorium gebauten alten Hotels. Die für die Realisierung notwendigen Anpassungen der lokalen Bauordnung wurden in einer vielbeachteten Volksabstimmung von der Mehrheit der Bevölkerung gutgeheissen. Das Projekt hat so bereits vor seiner Realisierung Furore gemacht. Man verspricht sich davon viel mehr als nur die Rettung des Hotels. Davos - als “global village” der Polit- und Finanzeliten bereits im “Bewusstsein der Weltöffentlichkeit” - erhofft dadurch zusätzliche Publicity als progressive, urbane Feriendestination.
Bei der Realisierung eines andern Projektes, dem Hotel Castell in Zuoz im Oberengadin gingen die Initiatoren einen Schritt weiter.[3] Neben dem obligaten Prestige-Annexbau wurde hier bereits in der Projektierungsphase mit Experten für zeitgenössische Kunst und einzelnen KünstlerInnen zusammengearbeitet. Der Hauptinvestor, Millionenerbe einer wohlhabenden Zürcher Familie und Philantrop führt in seinem Namen eine Stiftung, die ausschliesslich in Weltklasse-Kunst investiert. Er hat sich bereits im Vorfeld der Realisierung des Neubaus lokal engagiert und mit seiner Unterstützung ein breit angelegtes Insito-Projekt ermöglicht. Mit künstlerischen Interventionen im öffentlichen Raum der umliegenden Gemeinden – darunter z.B. eine Version der Metro Station von Martin Kippenberger. Auf einem Rundgang durch die Hotelanlage begegen einem nun die Werke von Roman Signer, Pippilotti Rist und Fischli&Weiss. Der Weg zum Hamam führt über einen kunstvoll angelegten Steg von Tadashi Kawamata. Auf dem Hügel über dem Hotel steht eine Installation von James Turell. Die “spirituelle Reinigung” im Lichpavillon, exklusive für Gäste des Hotels. Über Leihgaben aus der stiftungseigenen Sammlung und durch ein Artist in Residence-Programm sollen in Zukunft immer neue “Attraktionen” dazustossen. Das fünfsterne Haus richtet sich an eine urbane, aufgeschlossene Elite von Besserverdienenden oder Vermögenden, die sich den Kurzurlaub in der Aura berühmter zeitgenössischer Kunst leisten können, aber zugleich auch über den nötigen Esprit verfügen, um den Wert der dargebotenen Kunst auch angemessen zu würdigen. Zusammengenommen doch eigentlich recht selektive Kriterien, um einfach mal auszuspannen.
Es lassen sich eine ganze Reihe weitere Projekte anführen, die mit einem gezielten Einsatz von Design, Architektur oder (Hoch)Kultur die touristische Wertschöpfung zu optimieren versuchen. Ein weiteres, hier in Bregenz sicher bestens bekanntes Beispiel ist etwa die neue Therme von Vals.[4] Die von Peter Zumthor in den 1990er Jahren gebaute Anlage hat sich in den vergangenen Jahren zum eigentlich Pilgerort eines neuen Schweizer Essentialismus entwickelt und zieht eingeweihte Kenner und Liebhaber aus der ganzen Welt an. Fährt man heute an einem Wochenende mit dem Postauto nach Vals, kann es schon mal vorkommen, dass nicht mehr atmungsaktive Goretex-Gewebe von Wanderer die Szene dominieren, wie sonst überall in dieser Region sondern die schwarzen Anzüge von Architekten und Designer. Die Therme ist zwar Teil eines Hotels aber durch die Mitfinazierung der Gemeinde als öffentliche Anlage konzipiert. Gleich nach der Fertigstellung des Bades wurde der Ort gleichsam vom Erfolg überrollt. Längst ist der Zutritt ins Bad nur noch mit Voranmeldung möglich. Die “Verknappung” des Badespasses ist Teil des Konzepts. Zumthor hat in seinem Konzept die Maximalanzahl der Personen, die sich gleichzeitig im Bad aufenthalten dürfen nicht etwa nach betriebs- oder sicherheitstechnischen Kriterien festgelegt sondern mit Rücksicht auf die Wirkung, welche die Räume auf die Badenden entfalten sollen.
Bemerkenswert und im Kontext unserer Forschung bedenkenswert ist der Umstand, dass in allen diesen Projekten unterschiedliche Nuancen des “feinen Unterschieds” eine zentrale Rolle spielen. Dabei geht es offensichtlich nicht nur um die Legitimation eines höheren Preises. Es spielen auch Vorstellungen von besserem Reisen und authentischerem Erleben eine Rolle. Doch bevor ich darauf näher eingehe möchte ich Ihnen noch ein weiteres Projekt vorstellen und damit das Spektrum von Kulturbegriffen und Akspekten der Kulturalisierung im touristischen Raum noch etwas erweitern.
„Hannibals Überquerung der Alpen“, ein Freiluftspektakel im Stil einer Rockoper, bildete auch dieses Jahr wieder den fulminanten Abschluss der Wintersaison im Event-Ferienort Sölden.[5] Das Spektakel wurde vor fünf Jahren vom lokalen Seilbahnbetreiber initiiert und wird jeweils von einem lokalen Sporteventmanager organisiert. Als Author und Regisseur engagierten die lokalen Akteure einen Experten für Maschinentheater, auf den sie zuvor durch ein populäres Event von RedBull aufmerksam geworden sind. Das Schauspiel setzt einen immensen Aufwand an Technik und Logistik voraus, kann wegen dem parallel laufenden Betrieb jeweils kaum geprobt werden und wird jedes Jahr nur einmal aufgeführt. Die gesamte Flotte der Pistenfahrzeuge ist als Elephanten im Einsatz. Das Heer der Karthager wird von den Skilehrern der Region dargestellt, Feuerwehr und Rettungsdienste werden für die Bauten aus Schnee und die Beleuchtung des Gletschers aufgeboten. Die Einbindung von über 400 lokalen Darstellern, Pistenbullyfahrer, Bergretter, Skilehrer, Helikopterpiloten und Aerobictänzer, aber auch von bekannten Schauspielern, regionalen und nationalen Sportgrössen und selbst der Luftwaffe ist zweifellos beeindruckend. Neben dem Aspekt des Spektakels, bietet das Event den lokalen Akteuren, den Angestellten und Einwohnern des Dorfes aber vorallem auch Anknüpfungspunkte zur Identifikation mit dem Ort und mit der eigenen Funktion als DienstleisterInnen. Das Spektakel stellt gleichermassen eine Form von karnevalesker Überschreitung oder Party zum Saisonabschluss dar. Hannibals Überquerung der Alpen wurde von den kulturellen Eliten Österreichs und damit von den meisten Medien in den letzten vier Jahren standhaft ignoriert. Dieses Jahr erschien zum ersten mal eine Kritik im Feuilleton des Standards. Darin wird zumindest der grosse Aufwand gebührend gewürdigt. Das Thema bei Hannibal ist weniger Verknappung und feine Unterschiede. Hier werden alle Register gezogen, die die Akteure einer Sport-Event-Destination im Laufe ihres erfolgreichen Aufstiegs vom Bauerndorf zur Ski- und Party-Hochburg zu bedienen gelernt haben. Der freiwillige Einsatz aller verfügbaren Kräfte ist Ehrensache. Aus kommerziellen Motiven oder markteingtechnischen Überlegungen hätte das Spektakel bereits nach dem ersten Jahr abgesagt werden müssen, nachdem es kein namhaftes mediales Echo ausgelöst hat. Aber offenbar steht das für einmal nicht im Vordergrund.
Und auch hier lassen sich unzählige weitere Beispiele von kleineren und grösseren kulturellen Events, lokalen Kunstinitiativen und Kulturprojekten anfügen, die wir im Laufe unserer Forschung zusammengetragen haben. Das Spektrum reicht von Ausstellungen in Eisgrotten über Wandbilder an Staumauern bis zu kinder- und familiengerechten Lern- und Experimentierparcours zum Thema Klang und Volksmusik. Die Grenzen zwischen Kunst, Unterhaltungskultur und Marketing-Event sind offen und weitgehend fliessend.

Aus kultureller Perspektive werden touristische Attraktionen oft als Inbegriff kommodifizierter oder kommerzialisierter Kultur aufgefasst und kritisiert. Dem Tourismus wird unterstellt, eine ausschliesslich auf ökonomische Verwertung ausgerichtete Maschinerie zu sein. Und die Vorstellung, dass „gute“ Kunst etwas zur Steigerung der Qualität von Erfahrungen und Erlebnissen im Tourismus beitragen könnte, stammt denn auch meistens von Kulturschaffenden selbst. Was dabei kaum beachtet und wenig respektiert wird, ist die eigendynamische und komplexe alltagskulturelle Realität, die touristische Räume und ihre Akteure auszeichnet. In der Sphäre des ausseralltäglichen Erlebens – und dazu zählt heute ja längst nicht mehr nur der touristische Raum – gelten eigene kulturelle Regeln. Traditionelle Wertmassstäbe sind auf den Kopf gestellt. Was im Museum gute Kunst ist, stärkt im Garten des Hotels vielleicht den Ruf des Hauses und sorgt für die nötige Distinktion, während das Spektakel auf dem Berg zwar vielleicht von mittelmässiger künstlerischer Qualität ist, aber dafür vielleicht eine umso wichtigere Rolle für den Zusammenhalt und die Motivation lokaler Akteure spielt. Wendet man die im professionellen Kunstbetrieb üblichen Kriterien an, etwa was High- und was Low-Art ist, muss man den touristischen Raum meiden. Bis auf wenige angebliche „Lichtblicke“ – wie etwa das eben vorgestellte Hotel Castell in Zuoz – wäre hier nichts zu holen. Der „oberflächliche Schein“, die „mittelmässige Inszenierung“, das „kommerzielle“ Spektakel dominieren. Für uns war es denn auch interessant festzustellen, dass genau auf der Basis der selben Wertmassstäbe aus kulturwissenschaftlicher Perspektive touristische Praktiken insgesammt immer wieder kritisiert wurden: nichts als Bühnen und Hinterbühnen, gespielte Authentizität, Kommodifizierung oder gar Zerstörung lokaler Kulturen und sozialer Netze, Touristen als ferngesteurte Ignoranten mit mangelndem Sinn für lokale Differenzen und Nuancen, so tönte es. Auch viele aktuelle Arbeiten von KünstlerInnen zum Thema Tourismus nehmen eine ähnliche Perspektive ein. Die herrschenden Verhältnisse werden verdeutlicht, möglichst ungeschminkt dargestellt, eher skandalisiert – um angeblich die BetrachterInnen zu „imunisieren“. – Oder vielleicht doch eher, um sich kulturell abzugrenzen und um sich selbst seiner eigenen Praxis als kritisch reflektierter Metatourist zu vergewissern?

Wie können wir die angestellten Beobachtungen und beschriebenen Konflikte etwas theoretisch fassen? Einmal wird offensichtlich, dass Tourismus oder präziser touristische Praktiken (die Fähigkeit, Welt bereisen und fremde Orte und Kulturen kennen und lieben lernen zu können) im Sinne von Pierre Bourdieu als zentraler Bestandteil eines bildungsbürgerlichen Habitus beschrieben werden kann. Die Überlegenheit der reisenden Klasse ist eine doppelte. Sie basiert einerseits auf einem Informationsvorsprung und der damit verbundenen Möglichkeit beliebiger Aneignung von allerlei nützlichen Sitten und Gebräuchen, andererseits auf der Möglichkeit des kontinuierlichen reflektiven Vergleichs und damit einer Art Selbstversicherung des eigenen (kulturellen) Vorsprungs. Der touristische Raum ist somit bereits zum Voraus gewissermassen als eine Zone “kultureller Latenz” definiert. Hier können bestenfalls Fragmente oder Spuren vergangener, rückständiger oder exotischer Kulturen entdeckt und erlebt werden. Die kulturellen Massstäbe und neuesten Trends hingegen bringt man immer selber aus der Grossstadt (aus dem Norden/aus Europa) mit. Auf der andern Seite kann der Prozess der Kulturalisierung auch oder gerade im Tourismus als Ausdruck allgemeiner Kommodifizierung oder Urbanisierung im Sinne von Henri Lefebvre verstanden werden. Die Transformation von Landschaften und Räumen wie auch sozialer Strukturen oder lokaler kultureller Gebräuche erfolgt nach der Logik der Warenförmigkeit. Aus “natürlichen” Gegebenheiten werden käufliche Güter. Traditionelle, etwa mikroökonomische agraische Netze gehen in der Makroökonomie eines zunehmend global strukturierten Kapitalismus auf. Kulturelle Traditionen, lokales Handwerk, die (traditionelle) Gastfreundschaft, alles wird zu käuflichen Produkten. Aber wo immer der laufende Prozess der Kommodifizierung den Touristen zu offensichtlich ins Auge fällt, wird Kitsch, Fälschung oder Betrug vermutet. Systemimanenter Ausweg aus diesem Dilemma stellt für die Tourismuswirtschaft wiederum die Sicherung und Steigerung der Qualität (von Dienstleistungen und Produkten) dar und der vielleicht etwas verkürzte aber im Kern zutreffende Schluss aus diesen Überlegungen lautet: Höhere Preise stehen fortan für das “bessere Erlebnis”. Um solchen “elitezentrierten” Beschreibungsmodellen zu entkommen, sind andere Ansätze der Kritik hilfreich. Etwa Michel de Certeau’s “Taktiken von Konsumenten”. In “Die Kunst des Handelns” weiste er auf die vielfältigen Aktions- und Handlungsräume hin, die es im Alltag auch “den Verbrauchern” erlauben, ihre Interessen ins Spiel zu bringen und in vielen Fällen die Verhältnisse sogar umzukehren; gerade der konstante Verbrauch und kreative “Missbrauch” von Waren als kulturelle Zeichen stellt im Grunde eine der grössten Herausforderungen für den Kapitalismus dar. Lucy Lippard oder Helmuth Berking zeigen auf unterschiedliche Weise auf, wie die angebliche mit dem Prozess der Globalisierung einhergehende Entterritorialisierung und kulturelle Homogenisierung sich durch die Verschiebung sozialräumlicher Verhältnisse in den kulturellen Mikromillieus gerade ins Gegenteil verkehren kann. Globale Strömungen sind in dem Masse relevant, in dem sie lokal aufgegriffen und interpretiert werden. Während sich im Tourismus einzelne Prozesse und Abläufe tatsächlich immer stärker standardisieren – z.B. die Vermarktungs-, Verkaufs- und Informationssysteme, Transportwesen und Hotelstandards – werden auf kultureller Ebene “die Verheissungen des Lokalen” (the lure of the local) ganz offensichtlich immer grösser. Ulrich Beck, Anthony Giddens und Scott Lash versuchen diese neue Qualität gesellschaftlicher Entwicklung im Konzept der reflektiven Moderne zu fassen. Der britische Soziologe Kevin Meethan schliesslich liefert hilfreiche Argumente, um Tourismus und touristische Prozesse als eigenständige, sozial konstruierte und kulturell bedeutungsvolle Prozesse (“socially constructed and meaningful activity“) im Zentrum von Modernisierungs- und Globalisierungsdynamiken zu verstehen.

Was bedeutet dies nun im Hinblick auf unsere Betrachtungen zur Bedeutung von Kunst und Kultur im touristischen Raum? Für uns stellte sich in erster Linie die Frage, wie kann die immer noch überwiegend abwertende Sicht auf die hier zu findenden typischen (Alltags)Kulturen verändert und wie können die aktuellen kulturellen Erscheinungen angemessen gewürdigt oder kritisiert werden?
Wir gehen davon aus, dass eine angemessene Würdigung oder Kritik – eine Würdigung jenseits von gesicherten Werten der Elitekultur – von kulturellen und künstlerischen Ausdrucksformen, die im Umfeld von Tourismus und Erlebniswelten entstehen, praktisch nur auf der Basis einer differenzierten Auseinandersetzung mit den dahinter stehenden Akteuren möglich ist. Unter Akteuren verstehen wir Personen, Gremien oder Organisationen, die etwa Projekte initiieren, organisieren, inhaltlich und formal prägen oder je nach dem auch verunmöglichen. Aber auch das potentielle Publikum, etwa die Gäste einer spezifischen Destination oder die Verbraucher von Erlebnisangeboten sind Teil der Akteurskonstellation. Durch die Analyse unterschiedlicher Motive und Erwartungen, die die Akteure mit “ihrem” Projekt in Verbindung bringen, lässt sich im Grunde erst erkennen, welche Bedeutung, Wirkung oder Funktion spezifische Ausdrucksformen haben, etwa wie radikal oder banal sie im gegebenen Kontext sind. Eine “Würdigung” der jeweils vorgefundenen kulturellen Leistung muss eher situativ erfolgen.
Zur Debatte steht auch ein angemessener Kultur- oder Kunstbegriff. In verschiedenen kritischen Debatten über zeitgenössische Kunst hat man sich längst von der Autonomie des Werkes verabschiedet, zu Gunsten z.B. einer offenen, prozessbezogenen künstlerischen Praxis. In unseren Interviews stossen wir je nach Herkunft, Hintergrund und Professionalisierungsgrad der Akteure auf ganz unterschiedliche Sichtweisen auf das Phänomen Kunst, die so auch in die Projekte eingebracht bzw. entlang derer gemeinsame Qualitätskriterien ausgehandelt werden. Die Position des lokalen “Künstler-Originals” kann dabei genauso relevante sein wie die des kunstskeptischen Tourismusdirektor, des pragmatischen Vorsteher eines Baudepartements oder eines kunstsinnigen pensionierten Realschullehrers, der die Idee überhaupt eingebracht hat. Allgemeingültige oder hegemoniale Kriterien müssten demnach konsequenterweise zu Gunsten von differenzierten Betrachtungen und Analysen von Alltagskulturen, lokalen Initiativen und Strategien der Aneignung aufgegeben werden.
Schliesslich gilt es zu anerkennen, dass der touristische Raum – hier auch als exemplarisch für den globalisierten alltagskulturellen Raum einer Erlebnisgesellschaft verstanden – mit seinem transitorischen Charakter, seinen temporären sozialen Strukturen und seiner auf Erlebnisse und ausseralltägliche Erfahrungen hin optimierten Ökonomie ein äusserst zeitgemässer gesellschaftlicher Ort darstellt, wo auch längst tonangebende Architektur, Design und Kultur entsteht. So ist z.B. seit den 50er Jahren der Einfluss mediteraner oder alpiner Ferienarchitektur auf moderne Architektur und Innenarchitektur insgesamt unübersehbar und zahlreiche urbane Styles der 1980er und 1990er Jahren sind ohne Surf- und Snowboardkultur nicht denkbar. Selbst die Music Charts werden regelmässig von Hits angeführt, die in der Strandbar auf Ibizza oder auf der Almhütte in Tirol entdeckt wurden. Im Spiel der Moden und Trends der Freizeitgesellschaft mischt die touristische “Peripherie” kräftig mit. In dem Zusammenhang wäre es sicher interessant einmal genauer zu untersuchen, auf welche Weise die wesentlich vom Tourismus ausgehende Wellness-Welle oder Wellness-Kultur auf uns, auf unseren Alltag und in unsere Wohnung hinein wirkt und Verhalten, Styles und Designs beeinflusst hat.

Bei der differenzierteren Betrachtung lokaler Verhältnisse werden selbst im Grunde so massive Gesten wie die Therme in Vals wieder etwas relativiert. Schaut man sich heute im Dorf um, wird schnell klar, dass der “Kampf” des Essentialismus gegen das Mittelmass unentschieden ausgegangen ist. Im Hotel, in dem ich kürzlich übernachtet habe, hat man sich elegant dem “neuen Zeitalter” angepasst, indem man das heimelig-biedere Mobiliar aus den 1960er Jahren mit kleinen, selbstgebastelten Steinskulpturen im Stil konkreter Kunst aufgewertet hat. Und auch der Inhaber der Tankstelle und Imbissbude am Dorfrand hat begriffen, dass er sich auf ein neues Kundensegment einstellen muss. Er verfügt nun über ein passendes Schild, eine grosse Platte aus edlem Valser-Schiefer mit der eingravierten Inschrift “Take Away”. Durchaus angemessene Formen der Reaktion oder Aneignung von tendenziell totalitären Anrufungen, wie sie die Intervention von Zumthor unserer Ansicht nach darstellt.

Die Behauptung, der Einsatz und die Verwendung von Welt-Architektur und Welt-Kunst als Alternative zum touristischen Mittelmass tendiert dazu, Tourismus Bashing mit andern Mittel zu betreiben. Im aktuellen “Kulturkampf” rund um den touristischen Raum stehen in der Regel urbane, akademische Eliten lokalen Akteuren gegenüber. Den Eliten fällt es oft schwer, die Kultur des touristischen Raums ernstzunehmen und z.B. Improvisation als eine andere, den Umständen angemessene Form der Professionalität zu verstehen. Angesichts einer allgemeinen kulturellen Verunsicherung neigen die Eliten zu einem eher feudalen Kulturbegriff, während lokale Akteure ihre Möglichkeiten ausschöpfen und schneller mal alles mögliche ausprobieren, was Furore machen oder Aufmerksamkeit generieren könnte.
Die widersprüchlichen kulturellen Effekte von Globalisierung, die man auf die Formel “globale Standardisierung vrs. lokale Ausdifferenzierung” bringen könnte, sind an der Peripherie, im ländlichen, touristischen Raum stärker spürbar als im Zentrum, weil touristische Angebote und Destinationen an der an ihnen haftenden “Imagination eines Authentischen” gemessen werden, wärend die “Realität der Grossstadt/des Zentrums” Realität an sich ist.
Die Tendenz, “Welt-Architektur” und “Welt-Kunst” nun auch im touristischen Kontext zu behaupten und damit “echtere Erfahrungen” und “authentischere Erlebnisse” zu proklamieren ist unserer Ansicht nach im doppelten Sinne restaurativ. Einerseits wird dabei ein im Kunstkontext bereits ausgiebig kritisierter und dekonstruierter Kunst- und Kulturbegriff erneut ins Spiel gebracht, wonach die Bedeutung von Kunst-Werken absolut sei. Andererseits wird damit eine Refeudalisierung des Tourismus vorangetreiben, womit parallel zur Verknappung von “guter Arbeit für alle” nun auch mit der Verknappung von “angemessener Freizeit für jedermann” spekuliert wird.

Literatur

Beck, Ulrich/Giddens, Anthony/Lash, Scott (1994) Reflexive Modernization: Politics, Tradition and Aesthetics in the Modern Social Order. Stanford CA: Stanford University Press
Berking, Helmuth (2006) Die Macht des Lokalen in einer Welt ohne Grenzen. Frankfurt/Main: Campus.
Bourdieu, Pierre (1982) Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
De Certeau, Michel (1988) Die Kunst des Handelns, Berlin: Merve
Lefebvre, Henri (1974) The Production of Space, Oxford: Basil Blackwell.
Lippard, Lucy R. (1997) The Lure of the Local: The Sense of Place in a Multicentered Society. New York: The New Press.
Meethan, Kevin (2001) Tourism in Global Society, place, culture and consumption. Basingstoke: Palgrave.


©psp 2007