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Container 1, 2 und 3
Slideshow und Hörstellen, Intervention im Dorfzentrum von Engelberg im Rahmen der Aktionswoche 2006


Geschichten für Container 1 (Abend)

1

1.1 Kurz vor Betriebsschluss beginnen sich die Bars im Dorf zu füllen. Robber, Freezer und Shutter kommen vom Titlis-Terminal rüber ins alte Dorfzentrum, um eine erste Partyrunde zu feiern, bevor es später in der Nacht dann erst so recht losgeht. Viele der Bars bieten heuer draussen auf der Gasse in cool gestalteten Eis-Lounges Happy Hour Drinks an. Laute Musik ist out, seit alle ihren Sound über individuelle Playlisten via Handy und Headset nach Wunsch abrufen und wer um diese Zeit ohne Kopfhörer durch die Dorfstrasse läuft, wundert sich über die eigenartigen Geräusche welche die stampfenden und schlurfenden Schritte und das gelegentliche Mitsummen der vielen auf der Gasse tanzenden Gäste produzieren.

1.2 Viele der Clubs an der Dorfstrasse sind erst in den letzten fünf Jahren entstanden, nachdem hier jahrelang nichts mehr los war und auch einige Häuser schon ganz heruntergekommen waren. Ein Grüppchen engagierter Jugendlicher aus der Gemeinde eröffnete in einem ehemaligen Lebensmittelladen die „Bergbar“. Die „Bergbar“ war eigentlich eher eine Art Underground Club. Aber da die grossen Discos im Titlis-Terminal längst nur noch kommerzieller Mainstream boten, stiess die „Bergbar“ beim jungen Publikum aus der Stadt, welches hier zwei drei Tage drive-in-Ferien verbringt, auf ein grosses Bedürfnis. Innerhalb kürzester Zeit entstanden an der Dorfstrasse neue trendige Clubs und Lokale. Am Wochenende wird es schon mal eng, wenn neben den Touristen auch noch die Partybesucher aus Luzern nach Titlis City kommen, weil hier die besten Gigs laufen.


2

2.1 In dieser Saison liegt Robben absolut im Trend. Gerobbt wird in Gruppen zu viert oder zu sechst in einer Art geschmeidigem Gummiboot, mit welchem man über besonders steile Schneehänge und Gouloirs hinuntergleitet und dabei Loops und Sprünge macht.
Hier in Engelberg sind die neuen Trendsportarten immer sofort im Angebot. Seit 2015 finden jährlich die Crazy-Sports-Weltmeisterschaften statt, ein riesiger Publikumserfolg, bei dem jeweils Tausende die Sportler beim Ausüben der extremsten und verrücktesten Sportarten anfeuern. Als vor zwei Jahren zwei ausgeflippte Koreaner mit ihrem bunt bemalten, gummibootartigen Gerät die Steilwand vom Reissenden Nollen runter loopten, schlug das wie ein Blitz ein. Alle wollten dieses ganz neue Gefühl des Robbens selbst erleben. Der Sportingpark konnte gleich einer der Koreaner für eine Saision verplichten und eine Robbingschule aufbauen. Mit zum Spass gehört es, die Boote in einer Art Beschwörungs-Ritual vor der Fahrt individuell zu gestalten.
Ganz unbestritten ist aber auch dieser neueste Trend nicht. Es gab allein in dieser Saision schon mehr als 40 schwere Unfälle und seit sich die Robber mit Hilfe des Helishuttels immer verrücktere Touren von den Wendenstöcken, vom Spannort und letzte Woche sogar vom Schreckhorn runter aussuchen, wird nun auch eine politische Debatte darüber geführt, dass auch diese neuste Extrem-Sportart dringend ihre Regeln braucht.

2.2 Besonders beliebt ist Robben bei den Touristen aus China, die in immer grösseren Gruppen mit Bussen direkt vom Flughafen Zürich zu zweitägigen Blitzskiferein nach Engelberg reisen. Im Hotel können sie gleich bei ihrer Ankunft wählen, welche drei Sportarten sie am kommenden Tag erleben möchten. Eingeteilt in Gruppen werden dann an einem Vormittag schon mal einige 1000 durch die steilen Robberslopes geschleust. Robben ist vermutlich bei den Gäste aus dem Reich der Mitte, welche zuhause meistens zur Klasse der erfolgreichen Business-Leute gehören, auch deshalb so beliebt, weil man dabei als Team auf Gedeih und Verderben einander und dem Zufall ausgeliefert ist. Nach solchen Extremtouren laden die Veranstalter jeweils am Abend zu einem Buffet mit allen bekannten Schweizer-Spezialitäten ein, begleitet von einem speziellen Unterhaltungs-Programm zum Thema “Die Alpen – eine Welt zwischen Nostalgie und Zukunft”.


3

3.1 Direkt neben dem Titlis-Terminal wurde letztes Jahr ein grosses drive-in-drive-out Hotel eröffnet. Das Hotel ist auf junges Publikum ausgerichtet, auf Leute, die spontan Kurzferien machen und dabei möglichst viele coole Gleichgesinnte kennenlernen wollen. Alle Zimmer des von aussen eher an ein Provisorium erinnernden Hotelkomplexes sind modular, und können durch umstellen der Wände einzeln, zu zweit oder auch von mehreren belegt werden. Alle Zimmer sind um eine zentrale Halle herum angeordnet, wie in einer grossen Arena. Sie ist das soziale Zentrum, Lobby, Lounge, Club, Bühne und Fernsehstudio in einem. Hier ist rund um die Uhr Betrieb. Gäste kommen an, nehmen Abschied, Stars tregen auf und neue Stars werden entdeckt. Das ganze Geschehen wird von professionellen Moderatoren ständig live kommentiert. Einzelne Gäste werden für kleine Talkshows auf die Bühne geholt. Dazwischen finden spontane Quiz- oder Tanzeinlagen statt und eine Hausband spielt. Die Show läuft eine ganze Saison lang Tag und Nacht. Sie kann in der grossen Arena live oder von jedem Zimmer aus am TV und später via Satellit sogar von zuhause aus verfolgt werden.

3.2 In-out ist Kult. Viele der Gäste kommen im Laufe der Saison immer wieder, um für eine oder zwei Nächte dabei zu sein. Und für einige ist das In-out bereits zu einer Art Familienersatz geworden. Das was viele von In-out fast süchtig macht, ist die Möglichkeit, in jedem Moment selber Star zu sein, entdeckt zu werden, wenigstens für eine Nacht ganz gross heraus zu kommen und danach vielleicht von der drive-in-drive-out-Kette sogar gecastet und auf Tournee geschickt zu werden. Unbestrittener Höhepunkt jeder Saison ist aber das grosse Finale der in-out-Show. Hier werden die absoluten in-out-Stars des Jahres ermittelt. Diese dürfen dann gratis eine Ausbildung machen und werden anschliessend vom drive-in-drive-out Hotel für die kommenden Saision unter Vertrag genommen.


4

4.1 In der Event Halle muss bis morgen Mittag das Set für die grosse FIS-Gala stehen. Kevin und Sirajh sind aber heute nur zu zweit. Zwei ihrer Kollegen aus der Firma sind erkrankt. Der Lieferwagen mit dem Showequipment steht auf dem leeren Parkplatz vor dem Titlis-Terminal und Kevin ist erst damit beschäftigt die Tragstrukturen für das Licht und die Effektmaschinen zusammenzumontieren, während Sirajh die verschiedenen Kabelrollen, Leuchten und Steuerelemente in den Saal trägt. Sirajh hat Durst aber das Shopping-Center nebenan ist schon seit einer halben Stunde geschlossen und Disko und Bar haben heute Ruhetag. Er beschliesst deshalb, zwei Coke’s von der Beverage-Machine in der Abfertigungshalle des Titlis Express auf der andern Seite des Terminals zu holen. Weil im Innern des Gebäudes alles verschlossen ist, muss er den Umweg aussen rum nehmen, über die grossen Parkfelder, um den Gebäudekomplex herum. Draussen ist es kühl und dunkel. Drüben im Dorf scheint mehr los zu sein. Die Abfertigungshalle ist um diese Zeit auch schon ausser Betrieb und wird nur noch indirekt von den grossen Werbevitrinen entlang der Stirnwand erleuchtet. Ausgestellt sind die Modelle der diesjährigen Titlis-Kollektion.
Der eigentliche Durchbruch gelang der Marke “Titlis” – die mittlerweilen als Label für Fun- und Extremsport weltbekannt ist – nach der vollständigen Fusion der Skigebiete vom Titlis, Melchsee Frutt und Hasliberg. Die Talstation der Titlis Rotair-Bahnen, das Einstiegstor zu einem der grössten Skigebiete der Alpen, wurde zu einem riesigen Sport- und Event-Terminal ausgebaut, mit Shopping Mall, verschiedenen Indoorsport-Anlagen, einer grossen Veranstaltungshalle, Bars und Diskos.
Mit den beiden Cokes unter dem Arm, macht sich Sirajh auf den Rückweg. Es sieht so aus, als ob es heute schon wieder eine Nachstschicht geben würde.

5

5.1 Das Top Event des heutigen Abends findet im Hotel Terrace statt. Der Anlass ist allerdings nicht öffentlich. „Geschlossene Gesellschaft“ steht auf einem Messingschild vor der Flügeltüre zum grossen Saal. Vor einer auserlesen Schar geladener Gäste wird heute das neue Erscheinungsbild des „Central Alpine Snow Park“ präsentiert, welches ab 2021 auch für Titlis City im Verbund mit Melchsee Frutt und Hasliberg-Meiringen gelten wird. Die verantwortlichen Vertreter der drei grossen Tourismus und Gastronomieunternehmen der Zentralschweiz und der beauftragten Werbeagentur aus London sind sind anwesend. Die Vertreter von Kanton und Gemeinde wurden als Gäste dazu eingeladen und sind gespannt, endlich zu sehen und hören, was die Profis in den letzten Monaten erarbeitet haben. Um der Konkurrenz keine Chance zu geben, mit ihrem eigenen Marketing noch vor dem Höhepunkt der diesjährigen Saison nachzuziehen, wurden alle Strategien und Bildwelten unter strengster Geheimhaltung entwickelt. Der Wettbewerb unter den 8 verbleibenden Ski-Arenen der Alpen von denen alleine 4 in der Schweiz liegen, ist mittlerweilen so hart, dass mit allen Arten von Betriebsspionage gerechent werden muss.

5.2 Mit einer grossartingen Soundkaskaden öffnet sich der Blick auf eine dreidimensionale Raumprojektion. Stahlblauer Himmel, gleissendes Licht, die Schneefelder des Titlis in der Tiefe, dahinter das Panorama der Berner Alpen. Ein schneller Zoom auf den neuen Alpentower hoch über dem Haslital. Partypeople auf der Sonnenterrasse, zwei kurze Close ups zeigen Gesichter von trendigen Models; schneller Schwenk zum Icetube am Reissenden Nollen, wo in atemberaubenden Tempo Tuber und Robber durch die Steilwand stürzen; langsamer Schwenk auf die sanften Hänge des Jochpass wo hunderte von älteren Carver und Snowboarder gemächlich über die Pisten kurven. Schnitt.
Aus der blauen Leere des Himmels schwebt eine Gruppe von Skiflyer langam in die Tiefe. Am untern Bildrand erscheint der Hahnen, der Engelberger Rotstock und der Rigialpstock und dann die ganze Bergkette nördlich von Engelberg und während die Skiflyer majestätisch in die Tiefe segeln, zieht sich am Brunni der Schnee zurück, die Berghänge werden grün, die Alpwiesen beginnen zu blühen, Biker und Walker sind plötzlich unterwegs und wenn die Flyer im Dorf landen, bricht eben die laue Sommernacht über das Tal herein. Die Dorfstrasse mit ihren Clubs und Bars ist hell erleuchtet, gutaussehende jugendliche Gäste flanieren auf und ab. Der Titelsong ertönt und der Slogan wird eingeblendet: Sport and Fun - whenever you want. Zum Schluss verglüht das dreidimensionale Logo von „Central Alpine Sport Park“ langsam im letzten Abendlicht.
Das Publikum im Saal vom Terrace applaudiert. Nach einer kurzen Pause tritt der verantwortliche Art Director der Werbeagentur aufs Podium und gibt kurz Auskunft zum Konzept hinter dem neuen Spot. Vertreter von „Central Alpine Tourism“ tauschen einige persönliche Eindrücke aus bevor das grosse Buffet im Saal eröffnet wird.



Geschichten zu Container 2 (Mittag)

1

1.1 Auf 3000 müM, bei der alpinen Versuchstation auf dem Stotzig Egg, scheint im Gegensatz zur Stadt unten im Tal, wie üblich um diese Jahreszeit die Sonne. Es weht ein leichter Ostwind und ist für diese Höhe mit 10 Grad erstaunlich mild. Die Luft ist sehr trocken und dadurch die Strahlung der Sonne mit 120 rh sehr intensiv. Ideale Bedingungen, um Experimente mit verschiedenen Oberflächen und biologischen Substanzen durchzuführen.
In den letzten 15 Jahren hat sich die Landschaft in den Höhenlagen des Titlis stark verändert. Die Permafrostgrenze ist gut 500 m nach oben gewandert und die feuchten Luftmassen, welche nun regelmässig im Sommer vom Mittelmeer her auf den Alpenbogen treffen und zu starken Niederschlägen führen, beschleunigen den gewaltigen Erosionsprozess. Schnee in grösseren Mengen fällt erfahrungsgemäss erst im Februar und März und führt regelmässig zu prekären Verhältnissen mit akkuter Lawinengefahr. Dadurch wurden einerseits massive Schutz-Verbauungen am Berg notwendig und andererseits wurde die verbleibende Verkehrsinfrastruktur und die neu errichteten Bauten der Testrennbahn und der Forschungsstation an den sicheren Standorten auf der breiten Nordflanke des Titlis konzentriert.

1.2 Die eidg. Versuchsstation, ein Jointventure der Universität Engelberg gemeinsam mit verschiedenen privaten Firmen, wurde auf dem Titlis gebaut, weil hier mit den Anlagen, die von Titlis Rotair übernommen werden konnten, zentrumsnah eine gut ausgebaute Erschliessung vorhanden war, die durch die Verkürzung der Saision und den kontinuierlichen Rückgang im Tourismus genügend Kapazitäten bot, um den personal- und materialintensiven Forschungsbetrieb aufzunehmen. Angestellte der Forschungsanstalt können mit der Metrolinie S44 bequem vom Zentrum Luzerns aus in 20 min das Titlis-Terminal am Stadtrand von Engelberg erreichen und fahren dann wahlweise mit der historischen Rotair-Bahn oder dem neuen Metrolift auf den Gipfel.

1.4 Heute Vormittag sind zwei Forscher von der ETH Zürich angereist, um die von ihnen vor einigen Monaten auf einer exponierten Versuchsfläche angebrachten Lack- und Farbproben zu begutachten. Neuartige erosionsschützende Lacke kommen heute nicht mehr nur in der Flugzeug- und Weltraumindustrie zum Einsatz. Intensivere Strahlung und Korrision durch Feuchtigkeit und Wind setzen auch den Fahrzeugen, Gebäuden und technischen Einrichtungen in gemässigteren Zonen immer stärker zu. Ein Blick auf die verschiedenen Materialmuster genügt den Spezialisten, um festzustellen, dass mit der neuen Formel noch nicht die gewünschten Ergebnisse erzielt wurden. Die Plättchen werden eingesammelt, sorgfältig verpackt und kurz vor Mittag machen sich die beiden schon wieder auf den Weg ins Tal. Bei etwa 2500 wurde die alte Gondel der Rotair – Bahn, die sich schon seit gut 10 Jahren wegen einem technischen Defekt nicht mehr um ihre eigene Achse dreht, von der grauen November-Hochnebelmasse verschluckt deren Obergrenze – vermutlich auch wegen dem Klimawandel – jedes Jahr einige Meter höher steigt.1


2

2.1 Mike und Renate haben sich heute am UBS-Brunnen verabredet. In der hell erleuchteten Einkaufspassage “Dorfstrasse” ist über Mittag immer viel Betrieb. Restaurants und Take Aways werden von Angestellten und Studenten gut besucht. Im Zentrum der Passage befindet sich der grosse, glasüberdeckte Hof mit dem aus den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts stammenden Springbrunnen, der kürzlich sorgfältig restauriert wurde und nun wieder aus hunderten von Rohren Wasser speit. Hier ist einer der beliebtesten Orte im Stadtzentrum von Engelberg, wo sich vorallem jüngere Menschen über Mittag oder abends vor dem Ausgehen treffen. Mike studiert seit einem Jahr an der sportmedizinischen Fakultät der Universität Engelberg und stammt aus Kanada. Renate ist kürzlich aus Emmen, einem Quartier im Westen von Luzern nach Engelberg umgezogen und arbeitet als Laborantin in einem materialtechnischen Labor, wo neue Textilien entwickelt werden, die das Überleben unter extremen klimatischen Bedingungen sichern helfen.
Mike und Renate kennen sich erst seit einigen Wochen und überlegen nun, da es in Engelberg im Moment sehr schwierig ist, eine bezahlbare Wohnung zu finden, zusammen zuziehen. Mike hat sich deshalb für eine Studiobox in der neuen Grossüberbauung beworben, die in den letzten Monaten anstelle der alten Blöcke mit Ferienappartements erstellt wurden. Heute morgen bekam er den Bescheid, dass die beiden per 1. Dezember einziehen können. Um diesen Bescheid gebührend zu feiern, beschliessen die beiden den “Älplerimbiss” zu besuchen, wo exklusive Spezialitäten aus heimischer Produktion und Alpkäse angeboten werden, die tatsächlich noch von einem der wenigen in der Zentralschweiz überiggebliebenen Alpbetriebe hergestellt werden.

2.2 Rund um den Campus von Engelberg haben sich in den letzten Jahren verschiedene kleinere, hochspezialisierte Firmen angesiedelt, die alle im Bereich Überlebenstechnik und Ausrüstungen arbeiten. Die Nachfrage nach entsprechenden Produkten ist gross, seitdem immer mehr Gebiete auch im Zentrum Europas zu Wildniszonen erklärt und nicht mehr länger kontinuierlich erschlossen und besiedelt werden. Renate arbeitet im Moment an der Entwicklung einer atmungs- und photosynthetisch aktiven Faser, die vor Hitze und UV Strahlung schützt. Kleider aus diesem neuartigen Material können über mehrere Monate hinweg getragen und ähnlich wie die Haut gepflegt werden ohne separat gewaschen werden zu müssen. Solche Kleider sind vorallem von den zahlreichen Extremtouristen gefragt, die sich in mehrwöchigen Touren durch die verlassenen Zonen im Alpenraum oder auf der Iberischen Halbinsel durchzuschlagen versuchen.


3

3.1 Am Rande der Konferenz für Sportmanagement hat sich eine internationale Delegation von Wissenschaftlern in der Lounge des Kongresszentrums Engelberg zum Mittagessen verabredet. Das auf exquisite asiatische Spezialitäten ausgerichtete Restaurant ist farblich dezent gestaltet. Auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Sitznischen können sich die Gäste für informelle Besprechungen in diskreter Atmosphäre zurückziehen. Als besondere Attraktion verfügt die Lounge über grosse, multimedial bespielbare Raumteiler aus Glas, die je nach Anlass und Tageszeit grossfläche Landschaftsansichten aus allen Teilen der Welt zeigen. Eine Lichtinstallation sorgt dafür, dass man auch bei schlechtem Wetter den Eindruck hat, draussen zu sitzen. Eine grosse Fensterfront erlaubt den Blick über die Dächer des alten Ortskerns hinüber zum Universitätscampus mit dem angrenzenden Techno Park. Der Himmel zeigt sich an diesem Tag im November 2020 in einheitlichem Nebel-Grau.
In dem Moment, wo die elegant gekleideten Kellner der Asia-Lounge die Plättchen mit den Sushis servieren, gleiten auf den Multimedia-Wänden des Lokals geheimnisvoll erleuchtete Unterwasserlandschaften der Karibik vorüber.

3.2 Adrian Parker vom MIT aus Boston hat heute Vormittag mit seinem Konferenzbeitrag für einige Aufregung gesorgt. Und darüber unterhalten sich die Wissenschaflter angeregt auf Englisch. Parker ist prominenter Verfechter der Theorie, dass der Sport der Zukunft weniger Gegenstand gesellschaftlicher und kollektiver Wünsche und Begehren sein wird, dafür seine Motivation vielmehr aus dem ganz individuellen Ehrgeiz schöpft. Eine Tendenz, die sich im Spitzensport schon seit längerem abzeichnet. So stossen etwa Wettkämpfe mit nationalen Mannschaften immer weniger auf Interesse. Die Einschaltquoten bei Skirennen sind schon lange eingebrochen und seit neustem scheint auch Fussball nicht mehr Massen zu mobilisieren. Dafür boomen alle Arten von Grosssportanlässen, an denen Privatpersonen oder kleine Teams von Firmen gegeneinander antreten und jeder gegen jeden kämpft. Für diese Art von Volks-Marathon, Volks-Triatlon und neuerdings auch Massenskirennen können zwar jeweils Tausende aktive Teilnehmer mobilisiert werden, sie finden aber kaum mehr ein Publikum in den Medien und sind somit als Werbeträger für ein Millionenpublikum uninteressant. Das führt dazu, dass grosse Sportveranstaltungen kaum mehr finanziert werden können. Es gbt zwar Versuche mit grossen Begleitevents oder der Durchführung von Fach- und Themenmesse am Rande das Geld einzuspielen. Das sportlich aktive Publikum konzentriert sich aber lieber auf die sportliche Herausforderung. Viele renomierte Sponsoren wir Grossbanken und Versicherung haben sich deshalb in den letzten Jahren aus dem Geschäft zurückgezogen. Man redet in dem Zusammenhang auch von der “postökonomischen Phase des Sports”.



Geschichten zu Container 3 (Morgen)

1

1.1 Im Garten “der Luft”, den ehemaligen Kurpark, wo geschnittene Buchenhecken einen kleinen, von der Aussenwelt abgeschirmten Platz unter freiem Himmel bilden, versammelt sich wie immer bei Sonnenaufgang eine Gruppe von Gästen zur Morgenmeditation. Es sind ältere Menschen dabei, Saison- und Dauergäste aus einer der Altersresidenzen und einige jüngere Gäste, die für eine “Woche der Stille” ins Engelberger Tal gekommen sind. Nachdem alle eine Weile lang konzentriert und in sich versunken kreuz und quer über die Wiese gegangen sind, entsteht langsam ein gemeinsmer Rhythmus, Tempo und Richtung gleichen sich an und die Gruppe bewegt sich mehr und mehr im Kreis herum. Dann setzen sich alle auf den Rasen und auf mitgebrachte Decken, nehmen eine möglichst bequeme Position ein, legen die Hände auf die Knie, schliessen die Augen und verharren in dieser Position. An diesem windstillen, sonnigen Sommermorgen ist ausser dem Gesang der Vögel nur das Rauschen von Wasser in der Ferne zu hören.
Die vom Kulturzentrum des Klosters aus organisierte, gemeinsame Meditation dauert eine halbe Stunde, dann löst die Meditationsleiterin die stille Konzentration auf, in dem sie jede Person der Gruppe kurz berührt und bittet jetzt langsam die Augen zu öffnen, sich hinzulegen und tief durchzuatmen. Einige bleiben danach noch eine Weile im Park sitzen, andere gehen Frühstücken oder machen sich auf den Weg zu einem längeren Spaziergang in die Umgebung oder einer Wanderung in die Berge.

1.2 Es ist kein Zufall, dass Engelberg vor zwei Jahren die begehrte Auszeichnung als “Europäischer Ort der Stille” bekommen hat. Die besondere, abgeschiedene Lage, die alte spirituelle Tradition des Eremitierens und die grossen in der Umgebung neu entstandenen Naturparks, boten ideale Voraussetzungen, um dem Dorf ein neues Profil zu geben. Und nachdem der Sportboom der Jahrhundertwende zu Ende ging und immer mehr Menschen die Anspannung des Alltags durch bewusstes Relaxing und kontemplativer Selbsterfahrung in der Natur überwinden wollten, war es mehr als naheliegend, auf Stille, Kontenmplation und Natur zu setzen.


2

2.1 Langsam erwacht nun auch das Dorf. Auf den Gassen sind leise surrende Elektromobile unterwegs, mit denen gratis das Gepäck und Waren transportiert und Menschen befördert werden. Geschäfte, Cafés und Restaurants im Dorfzentrum haben sich für diesen Sommer eine besonders stimmungsvolle Aktion ausgedacht. Unter dem Thema “Kultur des Morgens” bieten Cafés für alle, die die Magie eines Bergsommer-Morgens zu schätzen wissen, spezielle Frühstückskultur an, begleitet von einzelnen Lesungen und Konzerten. Überall auf den Plätzen und Gassen des Dorfes sind bequeme Sitzgruppen und Tische aufgestellt und die verschiedenen Hotels bauen im Freien reichhaltige Buffets auf. Mit der ersten S-Bahn aus Luzern kommen auch die ersten Tagesgäste an. Die Geschäfte entlang der Dorfstrasse laden zu einem frühen Einkaufsbummel ein. Sie sind vorallem beim älteren und qualitätsbewusstem Publikum sehr beliebt, wegen ihrem exquisiten Angebot an regionalen Produkten und Spezialitäten. Auf der Konzertbühne vor dem Kloster beginnt um 9 Uhr die Matinée. Heute spielt das Streichquartett vom Lucerne Festival Orchestra.

2.2 Eine ganz besondere Sehenswürdigkeit sind die „sieben Gärten von Engelberg“. Vor zehn Jahren wurde auf Initiative einiger kulturinteressierter Engelbergerinnen und Engelberger die Tradition der Kurgärten und Kurparks wiederbelebt. Überall im Dorf gab es noch Reste alter Anlagen, Teiche und Fusswege, welche um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20 Jahrhundert rund um die Hotels gebaut wurden. Zusammen mit Künstlern, Gestalter und Landschaftsarchitekten wurden einzelne Anlagen im Dorf wieder hergestellt und in der Landschaft rund um Engelberg neue Gärten angelegt. Fusswege führen von einem Garten zum andern, so dass die Gäste in einem mehrstündigen Spaziergang alle besuchen und dabei das Dorf und seine Umgebung erkunden können.


3

3.1 Jeder Garten hat ein eigenes Thema, seine unverwechselbare Stimmung. Im „Garten der Stille“ sind die Pfade mit Gras und Moos bewachsen, um das Geräusch der Schritte zu dämpfen und es wachsen dort nur Bäume, die ganz leise rascheln, wenn der Wind durch ihre Wipfel zieht. Im “Garten der Kraft”, der am Südhang über dem Kloster angelegt wurde, kann die Kraft der Sonne und der Felsen erfahren werden. Hier gibt es geschützte Steinnischen, die sich so sehr mit Sonne aufladen, dass oft schon im Februar die Krokusen blühen und im Herbst die Weintrauben reif werden.

3.2 Direkt an der Dorfstrasse liegt der kleinste der sieben Gärten von Engelberg, der “Viktoriagarten”. Der magische kleine Garten ist ganz dem Wasser gewidmet. Aus drei verschiedenen Quellen unter den alten Bäumen strömt unablässig Wasser in verschiedene Becken und durch verschiedene Kanäle, vermischt und vereint sich und fliesst schliesslich unter der Dorfstrasse hindurch in den Talgrund. Der Garten wandelt und verändert sich im Laufe der Jahreszeiten ständig. Dem Engelberger-Wasser wird von alters her sogar eine Heilwirkung zugeschrieben. Und so kommen immer mehr Besucher, um im Sommer die nackten Füsse im eiskalten Bergbach zu baden und im Winter die bizarren Eisskulpturen zu bewundern.


4

4.1 Melanda Niederberger war heute schon früh wach. Sie geniesst die grosse Ruhe und schaute von ihrer Terrasse aus zu, wie die Sonne die Hänge herunterwanderte bis sie unten im Tal die Dächer des Dorfes in ein klares rötliches Licht taucht.

Melanda Niederberger lebt seit 4 Jahren den Sommer über in Engelberg. Zusammen mit ihrem Lebenspartner hat sie eine Eigentumswohnung in der Seniorenresidenz Fürenpark gekauft. Die Residenz wurde auf Initiative des Vereins der Ferienhausbesitzer am Sonnenhang über dem Dorf gebaut, dort wo früher lauter baufällige Ferienhäuser standen. Engelberg ist in den paar Jahren, in denen sie nun immer den Sommer hier verbracht hat, schnell zu ihrer zweiten Heimat geworden. Vorallem im letzten Sommer, als ganz Mitteleuropa wieder einmal unter einer Rekordhitzewelle leidete, war sie froh, nicht unten im Flachland leben zu müssen.
Melanda ist gehbehindert und ist deshalb auf den fast kostenlosen Tür zu Tür Service angewiesen, den es nun im Dorf gibt. Seit Engelberg verkehrsfrei wurde, sind kleine Elektromobile unterwegs, welche Personen und Waren von jedem beliebigen Punkt des Ortes zu jedem andern fahren. Über den Hauslieferdienst können alle Produkte und Dienstleistungen hiesiger Geschäfte und Dienstleister rund um die Uhr über das Internet oder das Telefon bestellt werden.

Ein leises Surren draussen auf dem Zufahrtsweg zum Pavillon unterbricht Melanda in ihren Gedanken. Es ist das frische Brot, welches ihr vom Bäcker zugestellt wird.

©psp 2007