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Strategien des Mappings Erschienen in "Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas. transcribt Bielefeld 2007 Peter Spillmann „At that time there were many blank spaces on the earth, and when I saw one that looked particularly inviting on a map (but they all look that) I would put my finger on it and say, When I grow up I will go there.“ 1 Im März 2003 erschien der von „Le Monde diplomatique“ herausgegebene „Atlas der Globalisierung“. Er stellt den Versuch dar, das in seiner Vieldeu- tigkeit nicht mehr fassbare Phänomen der Globalisierung in Form von Karten und Statistiken zu unterschiedlichen Themen, Schauplätzen und Akteuren zur Darstellung zu bringen. Als Begründung für die Notwendigkeit einer neuen Art von Atlas führen die HerausgeberInnen an: „Da die Konturen der Welt sich unablässig wandeln und unsere Kenntnisse über die Veränderungen immer detaillierter werden, brauchen wir von Zeit zu Zeit eine Bestandsaufnahme der vorliegende Atlas dokumentiert den Status Quo zu Beginn des 21. Jahrhunderts.“ (Ramonet 2003, 5) Der „Atlas der Globalisierung“ ist nur eines von zahlreichen Projekten, die im Umfeld einer künstlerischen und wissenschaftlichen Praxis seit Ende der 1990er Jahren kartograf ische Verfahren oder Strategien des Mapping benutzen, um spezif ische Momente politischer, sozialer und/oder ökonomischer Realitäten festzuhalten und einer kritischen Debatte zugänglich zu machen. Mapping ist mittlerweile eine der wichtigsten künstlerischen Strategien in der zeitgenössischen kritischen Kunstproduktion. Auch das Projekt „MigMap Governing Migration eine virtuelle Kartograf ie der Europäischen Migrationspolitik“2, das in Kollaboration zwischen Soziologie, Politologie, Anthropologie, politischem Aktivismus und künstlerischer Praxis im Rahmen von TRANSIT MIGRATION entstanden ist, startete mit dem Anspruch, parallel zu den Forschungsberichten eine Kartierung der Migration in Europa seit 1989 vorzunehmen. Ziel war die Sichtbarmachung der Dynamik und politischen Evidenz der normalerweise in der medialen Berichterstattung nicht repräsentierten Autonomie der Migration und das Zugänglichmachen von entsprechenden Informationen über das Internet. Unter www.transitmigration.org/migmap kann man durch die bislang vier realisierten Karten navigieren. MigMap vermittelt ein Bild davon, wie und wo die „Wissensproduktion“ über und durch Migration zur Zeit stattf indet und wer daran teilnimmt und teilhat. Untersucht wird, wie die neuen Formen des suprastaatlichen Regierens, welche im europäischen Migrationsregime beobachtet werden können, ineinandergreifen. Kartografie wird im Projekt MigMap als künstlerisch motivierte Strategie eingesetzte, die nicht territoriale Grenzen (re-)produziert, sondern den sozialen Raum des Grenzregimes sichtbar macht und die Transformation der Nationalstaatlichkeit in eine textuelle und visuelle Erzählung bringt, die auch ein nicht-wissenschaftlich geschultes Publikum ansprechen soll. Was macht Kartografie- und Mappingstrategien als künstlerische, aktivistische und wissenschaftliche Methode im Moment so interessant, welches sind die Zugänge und Möglichkeiten, die sich dadurch auftun, wo ergeben sich mögliche Probleme? Gleich am Anfang seines Essays „The New Nature of Maps“ weist J.B. Harley auf die eigenartige Ambivalenz hin, die Karten eigen ist (Harley 2001). Unter den vielen verschiedenen Arten von Dokumenten, die von Historikern benutzt werden, nehmen Karten neben andern nichttextuellen Quellen wie Zeichnungen, Stichen, Bildern oder Fotograf ien eine eher untergeordnete Rolle ein. Sie gelten als „slippery“ (Par ry 1976). Karten sind offensichtlich schnell ungenau, veraltet und ohne Kenntnisse ihres Entstehungs- und Verwendungskontextes oft unbrauchbar. Da Karten immer eine spezif ische Mischung aus visueller und textueller Information darstellen, scheinen im Gegensatz dazu Bilder oder Texte durch ihre mediale Eindeutigkeit „verlässlichere“ Wissensquellen zu sein. Zugleich war und ist die Kunst und später Wissenschaft der Kartograf ie immer geprägt von der großen Anstrengung, möglichst rationelle und objektive Darstellungen für komplexe und mehrschichtige Informationen zu entwickeln. Das gilt für die Seekarten des 16. Jahrhunderts, die den Seeleuten Anhaltspunkte zur Orientierung und Navigation für den schwankenden Aufenthalt zwischen den Wellen des Ozeans, schemenhaften Landstrichen und den Gestirnen des Himmels boten, genauso wie für die Karten und Tableaus, die der Atlas der Globalisierung für seine durch die komplexen Entwicklungen der Gegenwart verunsicherten Leser bereit hält. Karten sind in einem genau def inierten Kontext nützlich und präzise, außerhalb derselben sind sie verwirrend, bestenfalls ästhetisch interessant. Die „Natur der Karte“ ist Text und Kontext zugleich, wie es Harley formuliert. Karten können nicht einfach als Bild betrachtet oder als Text gelesen, sie müssen inter pretiert werden. Um Karten lesen zu können, bedarf es einer Vielzahl von sozialen und politischen „Grammatiken“. Unter anderem ist die Kartograf ie Kreuzungspunkt verschiedener Wissenschaften wie z. B. Geographie, Geschichtswissenschaft, Archäologie, Biologie, Klimatologie, Meteorologie, Medizin, Politikwissenschaft, Pädagogik, Demographie, Soziologie und Sprachwissenschaft. Kartografie gehört zweifellos mit zu den wichtigsten „Leittechnologien“ der Neuzeit. Bei der Eroberung neuer Gebiete oder der Erschließung neuer Ressourcen waren Karten ein zentrales strategisches Instrument zur Def inition eines Territoriums. Sie dienten zudem der Legitimation von europäischen Besitzansprüchen wie auch der Herstellung und Festschreibung von neuen Grenzen. Das kontinuierliche Nachtragen und Verbessern der Landkarte ist neben dem Zeichnen und Einsammeln von unbekannten Pflanzen und Tierarten ein festes Ritual zur Objektivierung der zugleich beängstigenden wie faszinierenden Erfahrungen, welche die europäischen Expeditionstrupps bei ihrem Vorstoß in die in Europa anhin unbekannten Gebiete der Welt praktizierten. Während der auf dem Papier sich langsam abzeichnende Plan von Küstenlinien, Flussläufen und markanten Erscheinungen in der Landschaft für den Moment vielleicht ein Gefühl der Sicherheit vermittelte, stellte die Karte auf der Ebene des Wissens die Reproduzierbarkeit eines Ortes in der Welt sicher. Zurück von der Reise luden die vielen, zwischen den Linien immer deutlicher Kontur gewinnenden weißen Flecken zu fantastischen Spekulationen über eine exotische Wildnis ein. Die von Karten und Plänen jeweils repräsentierte Übersicht suggeriert die Darstellbarkeit objektiver Zusammenhänge und Planbarkeit. Die Karten ermöglichen die Kontrolle über ein Ter ritorium und liefern je nach strategischer Absicht die gewünschten Argumente. Karten sind aber zugleich als kulturelle Repräsentation in die ideologische Besetzung von Ter ritorien verwickelt. Am Beispiel historischer Karten von New England zeigt Harley auf, wie durch systematische Auslassungen und Überschreibungen sämtliche Hinweise auf indigene amerikanische Kultur etwa Flurnamen, Lager- oder Kultplätze getilgt und somit die Existenz einer entwickelten Zivilisation vor der Ankunft der Europäer negiert wurde (Harley 2001). Die Techniken des schematischen und statistischen Erfassens von Territorien und Bevölkerung haben konstitutive Bedeutung bei der Errichtung von Staaten und bei der Festschreibung von territorialen Ansprüchen. Die Karten, welche die Souveränität eines Staatsgebiets innerhalb seiner geschlossenen Grenzen anschaulich werden lassen, sind dabei unverzichtbar. Die Formen der europäischen Staaten, die sich mit der Gründung von Nationalstaaten auf der Karte wie ein Puzzle ineinander zu verzahnen beginnen und ihre großen Schatten, die überall auf dem Globus wachsenden und wieder zerfallenden Flecken der Kolonialreiche, stellen bis heute die plausibelste und zugleich anschaulichste Repräsentation jener Einheit von Bevölkerung und Territorium dar, die der Idee von Nation zugrunde liegt. Mapping und der Aktivismus der KulturproduzentInnen Karten haben vermutlich gerade wegen ihrer Ambivalenz in Erscheinung und Praxis, zwischen Text und Bild, Technologie und Wissenschaft, als Artefakte immer schon KünstlerInnen fasziniert. Die Annahme aber, dass Kritik- und Handlungsfähigkeit angesichts komplexer gesellschaftlicher Verhältnisse nur erhalten werden kann, wenn man sich eine Art kartograf ische Übersicht, ein Modell erarbeitet, ist zumindest im Bereich der Kunst neu. Die künstlerischen Mappingstrategien in den 1960er und 1970er Jahren dienten eher dazu, die auf dem Plan der Zeit rational und übersichtlich erscheinende Realität durch individuelle Eintragungen und Überschreibungen zu verwischen. Der Künstler und Architekt Constant 3 benutzte in den 1960er Jahren gängige Stadtpläne von Paris, Brüssel und Amsterdam, um seine eigene Vision der Stadt der Zukunft darzustellen. Seine Überarbeitungen von Karten zeigen rhizomartig verästelte Strukturen entlang bestimmter Verkehrsachsen oder Geländestrukturen, wo sich die Stadt in Zukunft verdichten und von mehrschichtigen Nutzungen überlagert wird, während die homogenen Flächen dazwischen an Bedeutung verlieren. Constants Entwurf für eine Stadt des Homo Ludens, New Babylon, organisiert sich entlang von Funktionen, Kontakten und Informationsflüssen und ist nicht mehr an traditionell hierarchischen Strukturen oder am Prinzip von Zentrum und Peripherie ausgerichtet. Die Karten von New Babylon entstanden in einem zur Kartografie inversen Prozess. Die objektive Ordnung der Strukturen wird durch ein subjektives System von Bedeutungen überzeichnet. Die territoriale Integrität, durch die sich Staaten, Bezirke und Städte auf ihren Gebieten gleichsam naturalisiert haben, löst sich in den subjektiven und partikularen Interessen auf, die auf die bestehende Karte projiziert werden. Dem offiziellen Masterplan stellten die Situationisten das Prinzip der Psychogeograf ie entgegen. In einer Ausgabe der Zeitung der Situationistischen Internationale wurde ein Diagramm abgebildet, das gewissermaßen Anregung und Plan für das von den Situationisten praktizierte derive darstellen könnte. Es ist eine Aufzeichnung aller Wege, die von einer im XVI. Pariser Bezirk wohnenden Studentin innerhalb eines Jahres gegangen wurden. 4 Aus dem gleichförmigen Netz von Straßen treten bestimmte Routen hervor. Sie betreffen nur einen kleinen Teil des Stadtgebiets und konzentrieren sich vom Wohnort der Studentin im Wesentlichen auf drei Strecken, die mit einigen Abstechern in unterschiedliche Richtungen ein Dreieck bilden. Dieses ganz individuelle Mapping, welches die täglichen Bewegungen durch Stadt und Landschaft erfasst, greift in den 1970er Jahren u.a. die amerikanische Künstlerin Morgan O’Hara in ihren „Portraits for the Twenty-First Century“ auf. 5 O’Hara ging von der Idee aus, dass die präzise Aufzeichnung der Reisen, die eine Person im Laufe ihres Lebens macht, zu einem genauso adäquaten Bild dieser Person führen kann, wie z.B. ein fotograf isches Porträt. Was das Mapping oder allgemeiner das Aufzeichnen von Bewegungen und Routen ihrer Ansicht nach zu einem dem 21. Jahrhundert angemessenen Verfahren macht, ist der Umstand, dass dabei die Dimension der Zeit mit in die Darstellung einbezogen wird. Mapping erfasst für sie nicht nur die Dimensionen des Raumes, sondern das Verhältnis von Raum in der Zeit, die Bewegung im Raum. In den künstlerischen Arbeiten der 1960er und 1970er ist bereits angelegt, was die aktuellen Strategien des Mappings charakterisiert, von denen MigMap nur eines von vielen weiteren Projekten ist. Mapping als künstlerische Praxis basiert auf einer mehr oder weniger reflektierten Umdeutung der traditionellen Methoden der Kartografie. Ausgangspunkt ist das Wissen um die Lückenhaftigkeit und die Beschränkung von Karten sowie die Kritik am einseitigen Herrschaftswissen, das durch sie repräsentiert wird. Der Anspruch auf eine möglichst detailgetreue objektive Darstellung einer konsistenten Realität wird durch die Schichtung und Verknüpfung mit subjektiven und partikularen Informationen unterwandert. Der Prozess der Recherche und des Sammelns von Daten und Informationen wird zu einem Akt einer bewusst subjektiv wertenden und partikularen Wissensproduktion. Ein aktuelles Beispiel sind die Karten und Diagramme der französischen Künstlergruppe „bureau d’études“. Eine ihrer Kar ten zeigt z.B. das globale Netzwerk von Medienunter nehmen, eine andere versucht das Netzwerk von Gr uppen und Initiativen, die in der Anti-Globalisierungsbewegung aktiv wurden, nachzuzeichnen (Bureau d’études). 6 Während die Herausgeber des „Atlas der Globalisier ung“ mit relativ konventionellen Mitteln der Infograf ik arbeiten und große Mengen Daten in Schaubilder umsetzten, bilden die Kar ten von „Bureau d’études“ mit einer Vielzahl von inhaltlichen Verweisen und Zitaten, unterschiedlichen Icons, Logos und Schriftzügen eher ein assoziatives Geflecht von Bedeutungen rund um das untersuchte Thema ab. „Bureau d’études“ formuliert seine eigenen Erwar tungen an Karten auf folgende Weise: „Die bildhafte Darstellung aller sozialen Beziehungen auf der Welt, wie sie durch die Infor mationen, die sie dokumentieren, aufgezeichnet sind, würde im Idealfall eine Karte des globalen sozialen Raums herstellen. So eine Karte, nach den Beziehungen gezeichnet, die den sozialen Raum gestalten, kann uns helfen, unseren Standort festzustellen, zu erkennen, was gerade passiert und tatsächlich zu entscheiden, was wir tun können.“ 7 Was solche Verfahren auch für das Projekt MigMap als Arbeitsstrategie interessant macht, ist die Möglichkeit, soziale Vernetzungen, die sonst vielleicht nur in einzelnen Momenten der Begegnung manifest werden, dauerhaft sichtbar zu machen und dadurch eine Orientierungshilfe zu bieten. Mapping, das Kartieren sozialer und geograf ischer Räume bzw. die soziale De- oder Umkodierung des Raums, gehört zu den ureigenen Strategien einer „kritischen Kartograf ie“ seit den ideologischen Kämpfen um die Winkel- oder Flächentreue geograf ischer Karten und damit etwa um die Frage, wie groß die Fläche Europas auf einer Karte abgebildet wird (vgl. Monmonier 1996). Die „Gegenstrategien“ kritischer Kartograf ie verlaufen heute entlang unterschiedlicher Fluchtlinien. Während sich die französische Gruppe „migreurop“ in aufklärerischer Tradition jedoch nicht repräsentationskritisch auf Karten bezieht und die klassische Europakarte mit alternativem Wissen bestücken möchte, will das spanische Projekt „indymedia estrecho“ die Blickrichtung der Karten und damit ihre Verwendungsweise entlang des „estrecho“ (der Meerenge zwischen Spanien und Marokko) neu darstellen und umdeuten. So sind die Karten wie Gebrauchsanleitungen der Migration ausgelegt, ähnlich dem „Philo-Atlas“, den jüdische Verbände 1938 herausbrachten, um die jüdische Auswanderung aus Deutschland zu kartieren (vgl. Philo-Atlas 1998). In einer Form von militanter Kartierungspraxis versucht die aktivistische Künstlergruppe „Gruppo de Arte Callejero“ aus Argentinien mit ihren Stadtplänen, auf denen die Adressen von nie zur Rechenschaft gezogenen Massenmördern aus der Zeit der Diktatur markiert sind, gezielt die Bevölkerung einzelner Stadtteile für politische Aktionen zu aktivieren. „Karten erstellen ist eine Aktion der Erkenntnis; es kann eine Wissenserweiterung sein, ein Werkzeug zur Aneignung und Beherrschung, eine Denunziation, ein Plan zur Sabotage, eine Form der Verheimlichung und anderes.“ 8 Die spanische Gruppe „Precarias a la deriva“ ist durch ihre an der situationistischen Methode des „Umherschweifens“ geschulten Untersuchungspraxis migrantischer und feministischer sozialer Kämpfe bekannt geworden. 9 Das Erstellen von sozio-geografischen Karten entspricht hier zugleich der Reorganisierung des sozialen und politischen Raums. In ihren Kartierungsprojekten verbinden die Precarias zugleich die Kartierten miteinander und schaffen einen neuen Kommunikations- und Handlungsraum. In den „sans papiers cartographes“ wird das strategische Potential von Karten und der Anspruch der Sichtbarmachung vom spezifischen Wissen eines Netzwerks von Akteuren auf gelungene Art und Weise miteinander verbunden. Die zentrale Achse der Macht von Paris, schematisch als ein Pfeil dargestellt, auf dem sich Monumente des französischen Empire, von Notre Dame über die Pyramide du Louvre und den Arc de Triomphe bis zum Schloss Versailles aneinander reihen, wird durchkreuzt von den Routen der Demonstrationen der Sans Papier Bewegung und umzingelt von ihren Besetzungen von Kirchen, die auf der interaktiven Karte wahlweise angezeigt werden können.10 Kartografie dient in diesen Beispielen auch dazu, disziplinübergreifend Konturen sichtbar zu machen, Interessens- und Einflusssphären zu bezeichnen, zu vernetzen und einen verlässlichen Kontext für die laufende und zukünftige Arbeit herzustellen. Viele dieser Kartierungen, die im kollaborativen Umfeld zwischen einem ethnografisch-künstlerischem Mapping entstehen (Clifford 1997) und bereits in der Produktionsphase von einer international vernetzten User-Community geprüft werden können, entwickeln und erneuern sich quasi „selbständig“. Diese Chance eines kollaborativen, kommunikativen Forschungs- und Entwicklungsumfeldes, das sich innerhalb und außerhalb der Neuen Medien generieren und erweitern lässt, sollte auch im Fall von MigMap erforscht, er probt und genutzt werden, um eine dynamische Form der Visualisierung von Inhalten und deren Verknüpfungen bis hin zur internationalen Vermittlung zu garantieren. Die Konjunktur von Karten im aktivistischen, kulturellen und kulturwissenschaftlichen Umfeld muss aber auch parallel zur Konjunktur von elektronischen Mappingsystemen und Navigationstools im Internet gesehen werden, wo die Neuorganisation des Zugangs zu Information und die Neukontextualisierung von Wissen mit Hilfe der neuen Technologien am augenfälligsten wird. Symbolisch zumindest bemerkenswert ist in unserem Zusammenhang der von Google kürzlich lancierte Dienst Google Earth. 11 Der Globus, wenn auch in seiner dynamischen, elektronischen Variante steht wieder dort, wo er immer stand, am Eingang zur Bibliothek, auf dem Schreibtisch des Bildungsbürgers. An den historisch zementierten asymmetrischen Verhältnissen, welche sich in einer Vielzahl von kartografischen Normen niedergeschlagen haben, rührt auch die virtuelle Perspektive und die Möglichkeit zwischen Karten und Satellitenbildern hin und her zu switchen nicht. Im Gegenteil wird die Differenz zwischen „Zentrum“ und „Peripherie“ durch die Verfügbarkeit von hochauflösenden Satellitenbildern und detailliertem Kartenmaterial von Europa und USA und fast vollständig fehlenden Daten über Afrika nur ein weiteres mal reproduziert. Die „neue Macht“ der Kar ten im Internet basier t auf den vereinfachten technischen Möglichkeiten, elektronische geograf ische Daten (GIS, Geografic Information System) mit beliebigen statistischen Daten zu kombinieren. Während die Projektion von statistischen Daten, etwa Daten zu Bevölkerungsentwicklung und Einkommensverhältnissen, auf bestimmte Territorien Staaten, Bezirke, Gemeinden oder Stadtteile immer schon den unheimlichen Effekt zeigte, durch die räumliche Verortung aus flüchtigen und punktuellen Erhebungen faktische Verhältnisse zu produzieren, bieten die neuen, datenbank- und netzwerkgestützen Technologien nun die Möglichkeit, täglich gleichsam live zu verfolgen, wie sich z.B. das BIP einer bestimmten Nachbarschaft verändert. Der elektronische Stadtplan kann im Prinzip alles gleichzeitig leisten, er zeigt den Weg, gibt Einkaufstipps, informiert über „Sitten“ und „Bräuche“ der Bewohner und warnt, wenn ein Gebiet betreten wird, welches ein deutlich unterdurchschnittliches Prokopfeinkommen aufweist. Die Frage, was es bedeutet und ob es überhaupt sinnvoll ist, wenn bestimmte Infor mationen an Orten festgemacht oder Daten auf Gebiete umgelegt werden, tritt in den Hintergrund. Auf der Website von Chicago Crime kann jederzeit nachgesehen werden, wo in den letzten 24 Stunden ein Verbrechen stattgefunden hat. Kleine Fähnchen markieren den Ort, wo laut Polizeiprotokoll der Diebstahl, der Überfall, ein Mord oder eine Vergewaltigung passiert sind. In maximaler Zoomauflösung kann nun jeder und jede InternetnutzerIn verfolgen, wie sich die leeren Strassen Chicagos langsam aber sicher mit den bunten Fähnchen des Verbrechens füllen. 12 Das kritische Potential von Strategien, Informationen allen zugänglich zu machen, liegt demnach nicht im bloßen Zugang (Access) oder in der Distribution von Wissen, vielmehr im Versuch, neue und verbindliche Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Akteuren und Wissenskulturen herzustellen und diese auch auf der Ebene der Repräsentation wirksam zur Darstellung zu bringen. Analog zu den frühen Karten aus der Zeit der Entdeckung der Kontinente produzieren auch die von der Idee der Gegeninformation motivierten Projekte ihre eigenen weißen Flecken. Das aufwändig gestaltete Netz der Antiglobalisierungs-Initiativen auf der Karte von „bureau d’étude“ etwa tendiert dazu, das Netzwerk als letztlich undurchschaubares Insider verhältnis darzustellen. Dabei dient die Karte weniger als Orientierungshilfe oder Anleitung, um sich selber zu ver netzen, sondern wird vielmehr zum Abbild und Symbol der Kompetenz ihrer Verf asser. Es stellt sich die Frage, ob hier die strategische Überlegenheit, die jene innehaben, die ihre Karten (selber) zeichnen können, nun ironisch gewendet oder doch vorwiegend ernst gemeint ist. Das Wissen, das Karten (aber auch Piktogramme, Diagramme und Infografiken) repräsentieren sollen, das sie aber auch auf spezifische Weise „zuschneiden“, ist keineswegs außer halb von Machtbeziehungen zu platzieren. MigMap: Translate it Im Zusammenhang mit dem Projekt MigMap war es von besonderem Interesse, einen kritischen Blick auf diese verschiedenen Zugänge und dabei gerade auf jene Karten zu werfen, die Migration oder Aspekte davon darzustellen versuchen. Karten, ihre Legenden und Piktogramme stellen ein in den Sozialwissenschaften verbreitetes Medium zur Darstellung und Repräsentation sozialer Verhältnisse dar. Diagramme und Karten, die von wissenschaftlichen Einrichtungen angefertigt werden, finden darüber hinaus häufig unmittelbar Verwendung, etwa in Lehrmaterial und Massenmedien; nicht zuletzt dadurch erhalten sie eine unmittelbar politische Dimension. In der täglichen Berichterstattung spielen Karten und kartenartige Infograf iken im Zusammenhang mit dem Thema Migration eine zentrale Rolle. Die bunten und eingängigen Infografiken dienen dazu, Artikel in den Feuilletons und Magazinen aufzulockern und werden in den Fernsehnachrichten gerne hinter dem Sprecher eingeblendet. Oft ist auf solchen Diagrammen das gleiche zu sehen: eine politische Karte Europas mit einigen angrenzenden Regionen, hervorgehobene Herkunfts- und Zielländer sowie geschwungene, mehr oder weniger kräftig ausgezeichnete Pfeile, die den direkten Weg vom Osten und Süden ins Zentrum weisen. Numerisch differenziert wird die pauschale Repräsentation eines von Migrationsströmen „ins Visier genommenen“ Kerneuropa allenfalls durch Kuchen- oder Balkendiagramme mit Ranglisten der wichtigsten Einwanderungs- und Auswanderungsländer. Im „Atlas der Globalisierung“, der dem Thema Migration auch eine Doppelseite widmet, wird das klassische Pfeildiagramm zu einer Weltkarte erweitert, wo die Ein- und Auswanderungsströme im globalen Maßstab sichtbar werden. In dieser Repräsentation wird zumindest anschaulich, dass Europa nicht alleiniges Ziel von Zuwanderung ist, dass außer Europa mindestens zwei weitere Regionen „von Pfeilen bedrängt“ werden, Saudi-Arabien und die USA. Das Bild der in Form von dicken Pfeilen gegen Europa vorrückenden Massen taucht als stereotypes Motiv in jedem Schulbuch auf, etwa wenn die Völkerwanderung der Hunnen dargestellt wird. Auf vielen Karten werden mit Hilfe von Kuchendiagrammen die Anteile von MigrantInnen aus unterschiedlichen Herkunftsländern dargestellt. Die im Vergleich zur Fläche des Landes riesigen Tortendiagramme schweben wie eine feindliche Raumschiffflotte über dem Kontinent. Die graubraunen Kugeln, die in einer weiteren Karte des Atlas der Globalisierung die Auslandschinesen zu Beginn der 1990er Jahren repräsentieren sollen, wuchern wie Pilze überall auf dem Globus. Die Darstellungen, in denen eindimensionale Bezüge zwischen Ländern hergestellt werden und Ter ritorien als homogene Flächen in Erscheinung treten, sind im Wesentlichen das Ergebnis einer am Nationalstaat orientierten Datenerhebung. Der Prozess der Produktion des Migrationswissens ist offenbar verbunden mit der Auffassung von Nationen als scheinbar beständigen und homogenen Bevölkerungsgruppen, deren Kohärenz durch Migrationen beeinträchtigt zu werden scheint. Die Kopplung des Wissens an Machtapparate findet auch ihren Ausdruck in den epistemologischen Strukturen der Migrationsforschung, die neuerdings als „methodologischer Nationalismus“ kritisiert wird. Der Stellenwert und die Funktion von Datenerhebung hat sich mit der Krise der souveränen Staatlichkeit zwar verändert. Geblieben aber ist, dass Zählung und Erfassung bis heute zentrale Praktiken der Grenze sind und die Erfassung von Migrationen deren Steuerung dient. MigMap will im Gegensatz zu gängigen Kartierungsverfahren in der Migrationsforschung ein Bild davon vermitteln, wie und wo die „Wissensproduktion“ über und durch Migration zur Zeit stattf indet, wer daran partizipiert und wie die neuen Formen des suprastaatlichen Regierens im europäischen Migrationsregime funktionieren: wie z.B. die Implementierung europäischer Standards in Politik und Zivilgesellschaft abläuft, welche Stellen, Personen und Institutionen daran beteiligt sind, wie die verschiedenen öffentlichen oder privaten Akteure zusammenhängen und finanziert sind, welche inhaltlichen, räumlichen und personellen Überschneidungen oder Abgrenzungen bestehen, wie Zuständigkeiten verteilt und legitimiert werden und auf welchen Theorien, Begriffen oder Diskursen die momentan gültigen Paradigmen basieren. Die Karten haben also weniger den Zweck, Gegeninformation über die Migration zugänglich zu machen als vielmehr Akteure und Strukturen auf der Seite des Regimes darzustellen, auf ihre Funktion hinzuweisen und sie damit kritisier- und verhandelbar zu machen. In den letzten Jahren hat sich in Europa ein neues Grenz- und Migrationsregime herausgebildet, anhand dessen sich neue, z.T. suprastaatliche Formen des Regierens erkennen und darstellen lassen. Dazu gehören z.B. nur noch teilweise oder überhaupt nicht mehr staatlich kontrollierte Organisationen, die im Auftrag der Staatengemeinschaft das Management einzelner gesellschaftlicher Bereiche übernehmen, wie die IOM (International Organization for Migration), oder neue Formen der Wissensproduktion und des Wissensmanagements mittels Datenvernetzung, wie sie z.B. im SIS (Schengen Information System) praktiziert werden. Neben offensichtlichen Akteuren wie IOM, UNHCR oder EU, spielen viele kleinere, halböffentliche oder private NGOs, zahlreiche migrantische Initiativen aber auch einzelne Personen und Forschungsinstitute eine Rolle. Die komplexe Wirklichkeit des aktuellen Grenzregimes lässt sich nicht mehr länger einfach „abbilden“, vielmehr nur assoziativ, entlang scheinbar unverbundener Teilaspekte imaginieren. Die Migrationsrealitäten zu Beginn des 21. Jahrhundert sollen nicht verobjektiviert werden, wie es bestehende Karten meist tun, sondern das Projekt MigMap will ein dynamisches Kräftefeld zur Darstellung bringen, indem die Wechselwirkungen zwischen AkteurInnen und Diskurs, zwischen staatlichen Politiken und Migration, zwischen Subversion und Kontrolle vorstellbar gemacht werden. Über die vier bisher erarbeiteten Karten „Akteure“, „Diskurse“, „Europäisierung“ und „Orte und Praktiken“ sind zahlreiche Informationen zu einzelnen Akteuren, Debatten, Prozessen und Ereignissen abrufbar, die in ihrem Zusammenspiel das ergeben, was momentan die Europäische Migrationspolitik ist. Die Möglichkeit der Verknüpfung von Übersicht mit Infor mationen zu einzelnen Details ist auch einer der zentralen Gründe, wieso das Projekt für das Inter net konzipier t wurde. Ein anderer ist die Option, die Kar ten bei Bedarf laufend anpassen, nachtragen und mit weiteren z.B. interaktiven Funktionen versehen zu können. Je nach Bedürfnis punktuell abr ufbare und kontinuierlich veränderbare Repräsentation, die MigMap darstellt, wird dem Anspr uch einer nicht verobjektivierenden Darstellung sicher besser gerecht als z.B. eine gedruckte Karte oder Publikation. MigMap repräsentiert Akteure, Strukturen und Praktiken des Migrationsregimes auf der Basis der These von der „Autonomie der Migration“. Aus dieser Perspektive ist es möglich, die aktuellen Verhältnisse nicht als feste Strukturen, sondern als einen Prozess der Aushandlung, des kontinuierlichen Austestens und auch auf der Ebene der Politik der Improvisation zu begreifen. Auf Karte 1, der Karte der Akteure des Migrationsregimes, sind die unterschiedlichen Akteure der Grenze und der Autonomie der Migration eingetragen. Schriftgröße und Farbe geben Bedeutung und Art der jeweiligen Institutionen oder Organisationen an. Es wird dabei vor allem sichtbar, wie viele unterschiedliche Akteure neben den staatlichen Organen beteiligt sind. Angaben zur Funktion und zum Eigenverständnis der einzelnen Akteure sowie Links zu ihren Selbstdarstellungen und Mission Statements auf dem Internet vermitteln einen Einblick in die oft unscharf abgegrenzten Aufgabenbereiche, vielschichtigen Überlagerungen der Zuständigkeiten und teilweise Interessenskonflikte, welche die Summe der Akteure zu einem undurchschaubaren Filz von Aktionismus werden lässt. Karte 2, die Karte der Diskurse zeigt das Migrationsregime als Wissensregime. Hier laufen Themenfelder ineinander, verdrängen oder schließen einander gegenseitig ein. Dabei handelt es sich um die wichtigsten Diskurse, anhand deren Migrationspolitik gemacht wird bzw. mit denen zum Zweck der Durchsetzung bestimmter Politiken argumentiert wird: Menschenrechte, Sicherheit, Asylrecht, Traff icking, war on terrorism und weite- re. Einzelne Punkte an den Berührungsstellen der Felder lassen erkennen, welche migrantischen „Subjekte“ hier jeweils konstruiert werden: GastarbeiterInnen, illegale Migranten, Schlepper, Opfer, Wirtschaftsflüchtlinge, politisch Verfolgte. Die Kämpfe der Migration und ihre Kampagnen produzieren im Feld der Diskurse weiße Flecken der Gegenöffentlichkeit, während die Begrifflichkeiten rund um das ökonomistische Konzept des Migrationsmanagement auf der Karte neoliberale Plattformen bilden. Die Karte zeigt, dass die Diskurse niemandem „gehören“, sondern die Praktiken und Argumentationen verschiedenster Akteure durchkreuzen, sich damit gegenseitig verstärken können, aber auch dazu führen können, dass vorübergehend ein Ter rain entsteht, das von bestimmten Kräften beansprucht und verteidigt wird. Karte 3 zur Europäisierung als dezentrale Dynamik der Migrationspolitik stellt die Informierung und Implementierung transnationaler politischer Regulierungen dar. Dazu gehören formelle und informelle Beratungsgespräche, Treffen und Konferenzen und eine Vielzahl von Strategie- und Konzeptpapieren, die laufend präsentiert und wieder schubladisiert werden. Der „Schengen-Prozess“ oder die Debatte um die „Drittstaatenregelung“ sind hierfür paradigmatisch. Bestimmte Ideen tauchen auf, werden eine Zeitlang weiterverfolgt, bis die Debatte aufgrund neuer Ideen oder aus tagespolitischem Anlass eine jähe Wendung nimmt. Verschiedene parallel verlaufende Prozesse der Europäisierung haben temporär Konjunktur, überkreuzen sich und verlieren zuweilen zu Gunsten eines andern Prozesses an Bedeutung. Die laufende Entwicklung lässt sich durch eine einfache Chronologie der Ereignisse nicht mehr erfassen. Die Karte der Europäisierung hebt deshalb in einer an einen U-Bahn-Plan erinnernden Darstellung einzelne Verbindungen hervor; neue könnten jederzeit dazu kommen, falls sich in Zukunft herausstellen sollte, dass eine Abfolge von bestimmten Ereignissen und Ideen im Nachhinein gesehen zu einer relevanten Änderung oder Neuausrichtung der Migrationspolitik geführt hat. Die Karte 4 zu den Praktiken des Grenzregimes verzeichnet die Orte, an denen die Grenze gerade nicht territorial produziert wird: (Flug-)Häfen, Lager, Krankenhäuser, Beratungsstellen, der öffentliche Raum, die eigene Wohnung etc. Anhand von Skalen wird die Bedeutung verschiedener Praktiken der Kontrolle, Regulierung oder ihrer subversiven Unterwanderung ermessen. Die Vektoren von Erfassung, Kontrolle oder Repräsentation sind je nach „Ort“ unterschiedlich stark gewichtet sind ermöglichen damit verschiedene Handlungsmuster der Migration, in denen wiederum die zur Kontrolle eingesetzten Instrumente durchaus zu Ressourcen ihrer Umgehung werden können. Objektive Kriterien spielen dabei kaum eine Rolle, erfassbar oder besser spürbar kann die „Qualität“ der unterschiedlichen Orte der Grenze nur durch ein kontinuierliches Sammeln von individuellen Erlebnisberichten und Anekdoten gemacht werden. Einige dieser Geschichten sind auf der Karte stellvertretend für alle andern abrufbar. Viele weitere können dazukommen. Der Eindruck einer punktuellen Ein- oder Übersicht, der sich mit Hilfe der MigMaps vorübergehend einstellen kann, soll weniger dazu dienen, ein objektives Bild der neuen Regierungsformen zu vermitteln, als vielmehr darauf verweisen, wie unsicher, schwankend und unzuverlässig das Terrain der Macht geworden ist und dass diese Unschärfe selbst mit der ständigen Bewegung zu tun hat, in die die Migration die Apparate ihrer Kontrolle zu versetzen imstande ist. Die erhobenen Daten und das existierende Kartenwerk über Migration wird zwar von offizieller Seite als umfassend dargestellt, erweist sich aber selbst für die Praxis der Macht als untauglich und widersprüchlich. Etwa, wenn sich die Argumentation von Kommissions- und Regierungsberichten, die z.B. Schwachstellen der Überwachung aufzeigen sollen, genauso auf Karten stützen, wie die Selbstdarstellungen von Küstenwache und Grenzschutz, die versuchen, damit die Effizienz ihres Verteidigungsdispositivs anschaulich zu machen. Jenseits der zum Zweck der bloßen Repräsentation erstellten Karten wird zur Zeit in unzähligen Amtsstuben und Besprechungszimmern von Aufnahme- und Beratungsstellen überall in Europa verzweifelt versucht, eine einigermaßen verlässliche Karte aktueller Routen und Passagen zu zeichnen, um dem Rätsel der Ankunft auf die Schliche zu kommen. Diese Karte, zusammengesetzt aus vagen Skizzen mit vielen unvollständigen und fehlerhaften Angaben zu Orten und Personen sowie einer Chronologie von Ereignissen, die keinen Sinn ergibt, können wir nur imaginieren. Wir werden sie in absehbarer Zeit kaum je zu Gesicht bekommen, weil sich darauf bloß die Konturen des Scheiterns des aktuellen Grenzregimes abzeichnen würden. Die Unschärfe dieser aktuellen Karten ist vor allem eine Unschärfe aus der Perspektive derer, die zum Regieren abgrenzbare und definierte Größen (z.B. Statistik) und transparente Verhältnisse benötigen. Umgekehrt ergibt es aus der Perspektive der Autonomie der Migration auch keinen Sinn, den MigrantInnen bzw. der Bewegung der Migration ihre eigenen Routen, Tricks und Wege aufzuschlüsseln. Der Seite der Subalternen bloß Wissen zur Verfügung zu stellen über die Apparate und Techniken der Macht, ist zwar wichtig, aber reicht unserer Ansicht nach als Verfahren der Dekonstruktion der herrschenden Verhältnisse nicht aus. Benötigt werden Kartierungen, die das ganze Ensemble der Migrationsverhältnisse, Regierungsformen, Praktiken der Migration und die Diskurse, innerhalb deren die Konflikte um Migration verhandelt werden, zur Darstellung bringen. MigMap ist deshalb mehr als eine bloße Umkehrung von traditionellen Migrationskarten und auch nicht bloß eine Kartografie der Macht in der (kritischen) Tradition der Gegenöffentlichkeit. Sie soll vielmehr genau diesen Widerspruch reflektieren, der der Migration eine adäquate Repräsentationsstruktur verbaut. Dazu müssen die Episteme, die in jeder Karte zur Wirkung, kommen, selbst sichtbar gemacht werden und die weißen Flecken, die sich bei jedem Versuch einer Kartierung notgedrungen bilden werden, haben zum Glück bis heute nichts von ihrer magischen Anziehungskraft verloren. 1 Josef Conrad: The Heart of Darkness 2 MigMap wurde entwickelt und realisiert von Labor k3000 (Peter Spillmann/ Susanne Perin/Marion von Osten/Michael Vögeli) und den ForscherInnen von TRANSIT MIGRATION (Sabine Hess, Serhat Karakayalı, Efthimia Panagiotidis und Vassilis Tsianos). Das Projekt MigMap wurde von der Kulturstiftung des Bundes/Projekt Migration, von Pro Helvetia, Schweizerische Kulturstiftung und vom Aargauer Kuratorium unterstützt. 3 Mitbegründer der Situationistischen Internationale 4 Der französische Soziologe und Urbanist Paul Henry Chombart de Lauwe veröf- fentlichte die Graf ik 1952 in seiner Untersuchung „Paris und das Pariser Stadt- gebiet“ (Paris et l’agglomération parisienne) 5 Zu Morgan O’Hara siehe auch www.projektmigration.de/kuenstlerliste/ ohara.html 6 http://bureaudetudes.free.fr/ 7 In: Kurzführer zur Ausstellung „Productions 1-3“, KW-Institute for Contempora- ry Art, Berlin 2002. Bureau d’etudes: „planet of the abes“ 8 www.exargentina.org/Kongress/Kartographie. Grupo de Arte Callejero: Karto- graphische Überlegungen I, 21.09.2004. 9 www.sindominio.net/karakola/precarias.htm 10 www.namediffusion.net/indexancien.htm 11 http://earth.google.com/ 12 www.chicagocrime.org |
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