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Produktive Differenz
Hinweise zur kolonialen Matrix der “Belle Epoque”
Erschienen im Reader zur Thematischen Reihe "Kolonialismus ohne Kolonien?" der Shedhalle Zürich, 2006

Die Belle Epoque, die Zeit von 1880 bis in die 1920er Jahre gilt als “die Klassik” des Tourismus. Im Rückblick ist die Periode geprägt von Pionierleistungen im Bereich der Technik, der Erschliessung von entlegenen Gegenden und Bevölkerung, durch die Industrialisierung des Reisens und der Bilder. Für eine wachsende Schicht wohlhabender Bürger eröffnen sich völlig neue Perspektiven auf die Welt und mit der gleichzeitigen Verbreitung von Völkerschauen, Panoramen, Fotografie und schliesslich dem Film fällt dabei sogar etwas für die vorerst noch immobile Masse ab. Das Bild der Welt ist nicht länger Gegenstand von kursierenden Geschichten, Legenden und Spekulationen. Die Vorstellung, wie es woanders ist, konkretisiert sich durch die immer raffinierter werdenden Techniken der Abbildung und der Inszenierung und für die, die es sich leisten können, durch den Augenschein vor Ort.

Das Klassische oder “Erhabene” der Epoche kann am ehesten mit der ungebrochenen Faszination neuer Anblicke und Ausblicke umschrieben werden. In den Alpen wird durch die gezielte Positionierung von Grand Hotels auf aussichtsreichen Bergrücken die Landschaft und mit Hilfe der Zahnradbahn das Erlebnis einer perfekten Bergwanderung inszeniert. Die mechanisierte Wanderung führt vom Dorf über die Matten durch Bergwald und Alpweiden bis hinauf auf den Gipfel, ohne dass die körperliche Anstrengung die Konzentration auf das Schauspiel der sich ständig verändernden Aussicht beeinträchtigt. In den Weltausstellungen von Paris und London werden in grossen Hallen neben den neuen Maschinen, welche zur Überwindung von Distanz und zur massenhaften Produtkion von Gütern gleichermassen geeignet waren, die Prototypen afrikanischer und schweizerischer Dörfer aufgebaut. Das eigens für London kreierte Swiss House – eine freie Improvisation in Holz mit ländlichen Stilelementen vom Mittelalter bis zur Romantik, war so populär, dass es später Vorbild für viele touristische Bauten, etwa Hotels, Bahstationen und Souvenirläden in der Schweiz wurde. Differente, zuweilen exotische Landschaften, Bau- und Lebensstile haben Konjunktur.

Das Symposion vom 17.12.2005 “Produktive Differenzen” im Rahmen von “Kolonialismus ohne Kolonien? Beziehungen zwischen Tourismus, Neokolonialismus und Migration”
(http://www.shedhalle.ch/dt/programm/thematische_reihe/symposium/index.shtml)  sollte unter anderem dazu dienen, die aus einer postkolonialen Perspektive unübersehbare koloniale Matrix zu untersuchen, welche den touristischen Raum und die Begehren von TouristInnen bis heute prägt. In den verschiedenen Beiträgen wurden deshalb Ansätze aus der postkolonialen Theorie (Martina Backes, Christian Kravagna, Viktoria Schmidt-Linsenhoff) als auch Methoden und Analysen aus dem Kontext der Tourismustheorie (Peter Spillmann, Michael Zinganel) einander gegenübergestellt.

Hinweise darauf, inwiefern der Komplex des Tourismus, seine Bildapparate und gesellschaftlichen Dynamiken mit denen des Kolonialismus verbunden sind, lieferten auch zwei zur Einleitung des Symposiums nebeneinander gezeigten Filme. Der Film “La Suisse inconnue – La valleé du Lötschental” von 1916 zeigt in tableauartigen Einstellungen Bilder und Szenen aus dem damaligen Lötschental. Der Film wurde von der Balingham Films Company aus Montreux hergestellt, mit – so scheint es zumindest – einem gewissen populär-ethnografischen, wissenschaftlichen Anspruch, ähnlich dem von National Geographic-Produktionen von heute. So sollen landestypische Tätigkeiten und Bräuche für ein urbanes Publikum möglichst anschaulich dargestellt werden. Ein Panorama mit den schneebedeckten Bergen im Hintergrund wird mit dem Satz eingeleitet “L’endroit plus sauvage de l’Europe où vivent les paysans les plus étranges qui ignorent même la querre actuelle.” (Der abgelegenste Ort Europas wo die fremdartigsten Bauern leben, die sogar den aktuellen Krieg ignorieren.) Zur Illustration der Fremdartigkeit der lokalen Bevölkerung werden die regionaltypischen Verfahren der Herstellung und Konservierung von Nahrung herangezogen. “Die hiesigen Bauern backen nur zwei mal im Jahr Brot und essen konserviertes Fleisch, das mehrere Jahre alt ist.” In einzelnen Bildern z.B. “Un Moulin primitiv” und “Chasseur d’Abeilles” erscheinen die Bergbauern wie Eingeborene und Wilde. Alle Szenen mit Menschen sind offensichtlich inszeniert. Eine junge Frau wird zum Spinnen aus der für damalige Kameras zu dunklen Stube vors Haus gesetzt. Andere Frauen müssen auf Kommando in ihrer Sonntagstracht Treppen heruntergehen und das wilde Treiben der jungen Männer in Fellkleidern und Lötschentaler-Holzmasken in den Nächten ums Neujahr herum, findet im Film im sommerlichen Dorf statt. Das angereiste Film- und Forscherteam wird es vorgezogen haben, seine “Studien” in der angenehmen und schneefreien Saision druchzuführen, wo nicht die Gefahr bestand, durch Lawinen für Monate von der Umwelt abgeschnitten und auf die lokale Bevölkerung angewiesen zu sein. Und die Bilder, welche das Publikum erwartet, wenn von abgelegenen Orten und exotischen Menschen die Rede ist, hatten sie wohl bereits vor ihrem ersten Besuch vor Ort im Kopf gehabt. Den Umstand, dass die Gegend in erster Linie durch die Erschliessung mit der um 1907 angelegten Lötschberg-Bahn für Reisende und Forscher als Untersuchungs-Feld in Reichweite gerückt ist, verschleiert der Film genauso wie die Tatsache, dass das Team vermutlich im besten Hotel der Region untergebracht war. Zu sehen sind nur ausgewählte, zeitlos wirkende Einstellungen auf original rurale Substanz und “Eingeborene”. Um die Rückständigkeit der dargestellten Akteuer nochmals zu untermalen wird in einer der letzten Einstellung die Überlegenheit der Autoren des Films – oder des ethnographischen Blicks – inszeniert. Ein gutgekleideter arrivierter Herr mit Zigarrette unterhält sich aufgeräumt mit Gruppen von Kindern und Frauen. Als Einleitung zur Szene steht: “Um die Bauern nicht zu erschrecken, die noch nie was von Kino gehört haben, spricht der Schweizerische Historiker Dr. Stebler in ihrer Mundart mit ihnen.”

Aus heutiger Perspektive ist kaum mehr zu erkennen, was für ein Format und welche Funktion dieser Film hatte. Ist es wissenschaftliches Material, eine ethnografische Dokumentation oder eine Art von Unterhaltung, eine zeitgemässe Form der Völkerschau oder Werbung für Entdeckungsreisen in den Alpenraum? Das Zusammenfallen der Formate, wenn es um die Darstellung des Fremden geht, ist aus den Erfahrungen des Kolonialismus bekannt. Forschung, Berichterstattung, Unterhaltung und künstlerische Imagination gehören zum selben Dispositiv der Produktion und gleichzeitigen Produktivmachung von Differenz. Überraschend oder symptomatisch ist es, in den 1910er-Jahren im Herzen Europas darauf zu stossen. Diese “innere Kolonialisierung” während der Belle Epoque erschliesst gewissermassen Zonen und Gegenden in Europa – den Alpenraum, den “Süden”, einzelne Regionen Frankreichs und Italiens – welche  in Abhängigkeit von den Metropolen der industriellen Produktion, als Orten der Regeneration und Reproduktion in den wirtschaftlichen Kreislauf einbezogen werden.

In seiner Funktion und Absicht eindeutiger, nämlich vom Hotelier Padrutt 1926 als Werbefilm in Auftrag gegeben, ist der zweite Film “St. Moritz - La Perle de la Suisse”. Er sollte ein vermögendes Publikum aus ganz Europa nach St.Moritz und ins Hotel Palace locken. In der Einführungssequenz fährt die Räthische Bahn in den urban anmutenden Bahnhof von St. Moritz ein. Kutschen warten auf die Gäste. Sie fahren vor den Eingang des Hotels, wo Portiers bereit stehen. Eine andere Szene zeigt das mondäne Publikum beim Flanieren auf der Einkaufsmeile des Ortes – eine städtische Ladenzeile, welche gleich als Teil der Hotelanlage mitgebaut wurde. Ein noch heute futuristisch anmutender Schräglift bringt die Gäste vom Hotel hinunter zur Tennisanlage am See. Später werden Gäste bei der Ausübung verschiedener Sportarten und bei einem Ausflug mit der Berninabahn begleitet. Der Blick aus dem Wagonfenster und der Film werden eins. Mit kurzen Einblendungen von Zwischentitel wird der kulturelle und topografische Raum Ober-Engadin gleichsam inventarisiert. Die Inn-Fälle. Die Kirche San Gian 15. Jahrhundert. Talstation der Bergbahn zum Muotas Muragl. Der Bahnhof von Pontresina. Naturphänomene, historische Monumente und touristische Infrastruktur werden im Werbefilm alles Bestandteile des selben touristischen Settings. Im Stilmix und den Accessoirs der Anlage des Palace Hotels drückt sich der universale, globale Anspruch der Eliten aus, die im Palace einkehren sollten: Die Eingangslobby in ihrer Funktion den Anspruch des Hotels gegen aussen zu repräsentieren, erinnert an einen maurischen Palast, das Clubgebäude der Tennisanlage wo man sich im sportlichen Wettkampf mass hingegen eher an ein Gutshaus in den afrikanischen Kolonien und die Dépendance des Hotels hoch über dem Dorf, wo sich die Gäste nach einem Spaziergang zum informellen Tea zurückzogen, ist ein heimeliges “Swiss House”. In einer kurzen Szene von  einem Ball tauchen schwarze Jazzmusiker auf und in der venezianischen Nacht dinieren die Gäste in venezianischen Gondeln.

Sichtbar wird, dass bereits die “Klassik des Tourismus” in ihren Inszenierungen auf ein ganzes Arsenal von typologisierten kulturellen Differenzen zurückgreifen konnte. Der “geheimnisvolle Orient”, das “exotische Afrika” und das “romantische Italien” sind produktive Bilder, die in Form von architektonischen Zitaten oder im Festdekor aufscheinen und anscheinende von Anfang an zu einem universellen Leisure-Erlebnis gehören.

Durch die Kombination von romantischen Bildtraditionen und neuen Technologien sowie die Umdeutung feudaler Gesellschaftsrituale – die “Kur” in Baden Baden – schafft das bürgerliche Millieu einen ökonomischen  und kulturellen Durchbruch. Die Dynamisierung von Kapital – etwa durch Spekulation mit Bahn- und Hotelaktien – gelang nun auch ganz ohne Zugriff auf Ressourcen aus den ferner rückenden Kolonien. In der klassischen Phase des Tourismus erkennen wir denn auch bereits die Konturen einer postindustriellen Ökonomie, die auf Images und Erlebnisse setzt und kulturelle Differenzen als produktive Energie auf der Ebene der Bilder und ihrer Verfügbarkeit längst verinnerlicht hat. Die Erfindung des “klassischen Tourismus”, wie ihn die Belle Epoque hervorgebracht hat und die darin intendierte Verwertung der Differenz setzte offensichtlich einen zunehmend sublimer werdenden Umgang mit dem “Exotischen” voraus, bis sich dieses schliesslich in blossen Anrufungen verflüchtigte. Die beiden Filme markieren dabei – was ihre “Politik der Repräsentation” anbelangt – gewissemassen zwei entgegengesetzte Pole eines dynamischen Prozesses, dessen Wirksamkeit in touristischen und anderen Event-Settings bis heute zentral ist.


©psp 2007