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Von Bologna nach Pisa
Ein Ausflug in die aktuelle Bildungslandschaft


1. Persönliche Vorbehalte

Bildungspolitik gehört eigentlich nicht zu meinen Lieblingsthemen. Dafür gibt es mehrere Gründe. Einmal wurde die Diskussion um die richtige Bildung, die Rolle des Staates, Bildung als Zwangssystem, als Ritual der Einführung in gesellschaftliche Normen etc. im Zuge der 68er Kulturrevolution wie kaum ein anderes Thema aufgearbeitet, diskutiert und reflektiert. Andererseits schlugen sich die eigenen Schulerfahrungen in den 60er und 70er Jahren in einer grundlegenden Skepsis gegenüber der Gültigkeit und Legitimität pädagogischer und erzieherischer Ansprüche nieder. Es ist daher kein Zufall, dass meine eigene Bildungsbiographie von Brüchen, autodidaktischen Praxen und einem Studium an einer Alternativschule geprägt ist. Die Erkenntnis, wie eng schulische Rituale - die Selektion durch Leistung und die Legitimation von Professionalität - mit der Konstruktion von gesellschaftlichen Unterschieden und der Sicherung von Macht verknüpft sind, verdarb einem die Lust am institutionellen Lernen gründlich. Die Reform des Bildungssystems war kein Thema, denn Alternativen konnte man sich sowieso nur außerhalb der Institutionen vorstellen. Mit der zeitlichen Distanz zum eigenen Studium verminderte sich auch die Dringlichkeit, sich für eine „andere Bildung" einzusetzen. Zu den radikalen Kritikern der Schule als staatlicher Institution gehörte zur Zeit meiner Ausbildung Ivan Illich, den ich aus aktuellem Anlass hier nochmals zitieren möchte. Er schrieb 1968 in einem in der Zeitung erschienen Aufsatz unter dem Titel „Schulen helfen nicht": „Zum Schulwesen gehört auch ein gleichsam als Ritual anerkanntes Bescheinigungsverfahren für alle Angehörigen einer „verschulten" Gesellschaft. Schulen wählen diejenigen aus, denen der Erfolg sicher ist, und schicken sie mit einem Etikett auf den Weg, das sie als tauglich ausweist. [...] Es ist heute schwierig die Schule als System in Frage zu stellen, weil wir so daran gewöhnt sind. Unsere industriellen Kategorien sind dazu angetan, Ergebnisse als die Produkte spezialisierter Institutionen und Instrumente anzusehen. Armeen liefern ihren Ländern Verteidigung. Kirchen sorgen für die Erlösung im Jenseits. [...] Warum sollte man dann nicht Bildung als Erzeugnis von Schulen verstehen? Lässt man dieses Etikett erst einmal gelten, so macht Bildung ohne Schule den Eindruck, als wäre sie etwas Unechtes, Illegitimes und jedenfalls Nichtbeglaubigtes."1 So viel zu meinen persönlichen Vorbehalten dem Thema gegenüber.

2. Reformen

Bereits bei den ersten Diskussionen über das Projekt „Be Creative! Der kreative Imperativ" in Zürich, welches im Rahmen der Hochschule für Gestaltung und Kunst und dem dazugehörenden Museum entwickelt wurde, zeichnete sich ab, dass wir im Sinne einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Arbeitskontext nicht um die Frage der momentan laufenden Bildungsreformen herumkommen werden.
Von Außen betrachtet befindet sich die Schule in Zürich seit mehreren Jahren in einem permanenten Aufbruchzustand, der sich an der Produktion immer neuer Imagebroschüren und Wegweisern ablesen lässt. In den letzten 20 Jahren wurde der Name der Schule mehrmals geänderte, von „Kunstgewerbeschule" zu „Schule für Gestaltung", „Höhere Schule für Gestaltung" bis zu der heute gültigen Bezeichnung „Hochschule für Gestaltung und Kunst". Der Reformprozess hat sich in den letzten drei Jahren insofern verstärkt und konkretisiert, als dieser mit der Einführung von Fachhochschulen, der Umsetzung der so genannten Bologna-Standards und einer neoliberal geprägten kantonalen Bildungspolitik sozusagen Auftrag von „oben" wurde. Zum Zeitpunkt der Recherchen für „Be Creative!" zeichnete sich außerdem ein entscheidender Umschwung in der Dynamik der laufenden Reform ab. Der Prozess wurde nun straffer organisiert und formalisiert. Innerhalb der Schule wurden neue Departements geschaffen und damit die Zuständigkeiten neu definiert. Das vorher relativ eigenständige Museum für Gestaltung wurde damit stärker in die Struktur der Schule eingebunden. Während bisher die Reformen in unterschiedlichsten Gremien und Interessensgruppen auf allen Ebenen des Lehrkörpers diskutiert und Umsetzungsvorschläge entwickelt wurden, war mit der Etablierung neuer Hierarchien und der Einsetzung neuer, verantwortlicher Personen, der weitere Verlauf des Reformprozesses plötzlich nur noch Sache der Experten. Aus einem ursprünglich durchaus kreativ aufgefassten Projekt der Erneuerung und Neudefinition von Ausbildung wurde so innerhalb kürzester Zeit ein technokratischer Prozess der Anpassung an Standards. Ging es in der Argumentation für den Reformprozess zu Beginn noch um ideelle Ziele (neue Unterrichtsformen wie etwa Projektunterricht, Transdisziplinarität, intensivere Verknüpfung von Theorie und Praxis etc.) ziehen sich 2003 die Verantwortlichen hinter das scheinbar unangreifbare Argument „Sparen" zurück.

Uns interessierte in unseren Recherchen, ausgehend von der HGK Zürich, was „Reformen" im Bildungsbereich denn nun genau sind, welches die Auslöser sind, wie sie in Erscheinung treten und was real dadurch auf der Ebene der Institution und des Bildungssystems bewirkt wird.

In verschiedenen Grundlagentexten der 2002 amtierenden bürgerlichen Regierung des Kantons Zürich stießen wir auf einige programmatische Aussagen zum Thema Bildungspolitik. So heißt es in einem Text über das Selbstverständnis der Bildungsdirektion, welche auch für die Hochschule zuständig ist: „Die Bildungsdirektion strebt für alle Bevölkerungsgruppen ein chancenfaires Bildungsangebot an, das stufengerecht Allgemeinbildung und Fachwissen vermittelt und die Auszubildenden zu mündigen, verantwortungsbewussten Bürgerinnen und Bürgern und kompetenten, lebenslang lernenden und leistungswilligen Persönlichkeiten ausbildet."2 In einem Referat mit dem Titel „Wandel im Bildungswesen. Von der Vision zur Realpolitik" begründet der damals amtierende Bildungsdirektor die Notwendigkeit von Reformen wie folgt: „Die Welt ist - wie noch nie - im raschen Wandel begriffen. [...] Forschung und Entwicklung beschleunigen sich und die Produktzyklen werden immer kürzer. Neues Wissen und neue Verhaltensformen wie lebenslanges Lernen, Teamfähigkeit, Innovationsbereitschaft, Fähigkeit zur laufenden gesellschaftlichen und wissensmäßigen Orientierung - zunehmend über Kommunikationsnetze wie Internet - werden wichtiger. Wir brauchen mündige, aber auch solidarische Lebensunternehmerinnen und -unternehmer, die bereit sind, neue Berufswege zu beschreiten. Kurz: lebenstüchtige Bürgerinnen und Bürger im globalen Dorf."3
Bildung wird in den Regierungspapieren rein ökonomisch argumentiert. Die gesellschaftliche Bedeutung von Bildung wird im Gegensatz zu klassischen Bildungsidealen neu interpretiert. Anstelle des Ziels, reife, in den Gesellschaftskörper integrierte Persönlichkeiten heranzubilden (humanistische Bildungsideale) oder der Sorge um eine möglichst ganzheitliche, individuelle Entfaltung und Entwicklung (Ideale der 70er Jahre) tritt die Forderung nach Anpassungsfähigkeit an die sich ständig verändernden Bedingungen des Alltags und des (Arbeits-) Marktes. Damit wird Bildung aber für jeden einzelnen zu einer unternehmerischen Strategie. Jeder ist selbst verantwortlich, zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Updates durchzuführen.
Das Konzept des „Lebenslangen Lernens" stellt herkömmliche Schulstrukturen grundsätzlich in Frage. Wieso sollte man angesichts der „kurzen Halbwertszeiten von Wissen" viel Geld für eine breite und umfassende Grundausbildung ausgeben, lautet denn auch die polemische Frage wirtschaftsorientierter Kreise. Gefordert und nun auch umgesetzt werden Konzepte mit kurzen Grundausbildungen und einem flexiblen Angebot praxisorientierter, zunehmend auch selbst zu finanzierender Weiterbildungsformen. In der Grundausbildung liegt der Schwerpunkt auf den für das zukünftige selbständige Lernen notwendigen Fähigkeiten, etwa Lesen, Englisch und der Umgang mit dem Computer.

Bei dem Versuch, zu begreifen, was die Reformen in der Institution real bewirken, stießen wir auf einen weiteren bemerkenswerten Punkt. Uns fiel eine erstaunliche Asymmetrie auf zwischen den einfachen Formalismen, die auf der Ebene der Politik ausgehandelt wurden und den dramatischen strukturellen und sozialen Prozessen, die dadurch in den Institutionen selber losgetreten werden. Im Falle der HGK Zürich sind die bildungspolitischen Anrufungen einfach und eindeutig, genauso wie auch die technischen und strukturellen Anpassungen, welche innerhalb der Schule vorgenommen werden sollen, mit wenigen Worten erklärt werden können. Dramatisch wird der Reformprozess erst auf der Ebene der Institution und der hier engagierten Personen. Dramatisch sind die permanenten Verschiebungen, Umdeutungen und damit Verunsicherungen, welche stattfinden, ohne eine erkennbare Vision oder ein absehbares Ende. Die formale, sozusagen haltlose und inhaltsleere Dynamik hat den Effekt, dass die Institution selber aufgeweicht wird, sich Bindungen lösen, das Engagement der Beteiligten partikular und individualistisch wird, Tradition, Erfahrung und Kontinuität an Bedeutung verlieren.
Reformen - an der HGK Zürich und anderswo - können in diesem Kontext als ein Ritual beschrieben werden, ein Gestus der Veränderung, der scheinbar dem Zeitgeist entspricht und angemessen progressiv wirkt. Auf der politischen Ebene verspricht Reform Aktion und Effizienz, innerhalb der Schule lässt sich damit Althergebrachtes und Bewährtes spielend desavouieren und lassen sich neue Strukturen und Hierarchien legitimieren. Für die Dozierenden und Verantwortlichen wird die Reform zu einer Frage der persönlichen Biographie. Je nach Position und taktischem Geschick beginnt hier die neue Karriere, bietet sich die Chance zur Profilierung oder aber droht das Ende der Anstellung. Reform als Gestus verhüllt Motivationen, Inhalte und Motive, diese sind uneinheitlich, mal technisch, mal individuell, mal politisch und - was langfristige gesellschaftliche Perspektiven betrifft - nicht mehr länger öffentlich verhandelbar.
Reformprozesse ersetzen inhaltliche Auseinandersetzungen und politische Diskussionen. Während der Begriff oder besser der Gestus der Reform positiv konnotiert ist und als Ausdruck verantwortungsvollen und fortschrittlichen Handelns gilt, werden Meinungsverschiedenheiten, politische Auseinandersetzungen, oder gar Arbeitskämpfe als ideologisch und unzeitgemäß verbrämt. Unter dem Vorwand unumgänglicher Reformen werden Umstrukturierungen wie Sozialabbau und Bildungsumbau oft auch jenseits traditioneller Mitbestimmungs- und Entscheidungsprozesse durchgesetzt. In Reformprozessen sind die Betroffenen von Anfang an Involvierte. Durch den Appell an ihre Vernunft und Einsicht, die gegebenen Verhältnisse zu verstehen, werden sie selber zu Trägern und Verfechtern der Veränderung, auch dann, wenn diese für sie negative Folgen hat. Die scheinbar auf rationaler Sachlichkeit und freiwilliger Partizipation basierende Reform fast aller gesellschaftlichen Bereiche ist ein neuer Stil der Politik, Interessenspolitik, die zuweilen nicht mehr als solche zu erkennen ist.

3. Bologna

Der eigentliche äußere Anlass für den Umbau des Bildungssystems in Zürich ist, wie überall in Europa, das Abkommen von Bologna.
Über den Suchbegriff „Bologna Agreement" stößt man auf eine stilvoll gestaltete Website4 mit Informationen rund um die Tagung der europäischen Bildungsminister, die von 17. - 19. Juni 1999 in Bologna stattfand. Unter dem „Claim" „für die Schaffung eines europäischen Hochschulraumes" erscheint in Antiqua der Schriftzug „Programm Bologna 1999", daneben ein Bildausschnitt, der eine mittelalterliche Szene mit studierenden Mönchen zeigt. In einer einführenden Erklärung der Universität Bologna, welche aus symbolischen Gründen als Gastgeberin für die Tagung ausgewählt wurde, wird auf die einzigartige, Jahrhunderte dauernde universitäre Tradition Europas hingewiesen. Lange bevor in den Verästelungen der Webseite konkrete Informationen darüber auftauchen, was in Bologna eigentlich verhandelt und beschlossen wurde, wird den Besucher/innen der Internetseite der passende Rahmen vorgeführt, welcher die zu beschließende Deklaration in eine Geschichte der „europäischen Universität" einschreiben soll und so den zukünftigen europäischen Hochschulraum als quasi natürliche Konsequenz erscheinen lässt.
In der so genannten „Deklaration von Bologna" haben sich die europäischen Bildungsminister, inspiriert von Freihandelsabkommen, darauf geeinigt, einen „europäischen Hochschulraum" aufzubauen, um in Zukunft den sich verändernden wirtschaftlichen Bedürfnissen in Forschung und Bildung gerecht werden zu können, um den Wettbewerb unter den Universitäten zu fördern und um den Bildungsstandort Europa gegenüber Amerika und Asien zu stärken, wie es heißt. Dieses Ziel soll mit einigen wenigen, einfachen, aber wirkungsvollen Maßnahmen erreicht werden. Dazu gehört die gegenseitige Anerkennung von Diplomen und Abschlüssen. Um den Wert von Diplomen und Abschlüssen aber vergleichen zu können, sind in Zukunft gemeinsame Beurteilungskriterien notwendig, muss die Vielfalt der Stile, Eigenheiten und Spezialitäten der verschiedenen Schulsysteme und Bildungsinstitutionen über die Einführung von einheitlichen Normen kompatibel gemacht werden. Beschlossen wurde deshalb die Einführung des ECTS-Systems (European Credit Transfer System), einer mit der Modularisierung von Bildungsgängen verbundenen Leistungsbewertung. Studierende erhalten in Zukunft für alle absolvierten, in „Module" unterteilten Studienpensen Punkte. Der Wert eines einzelnen Studienpensums und die für eine bestimmte Qualifikation - den Berufsabschluss, den Bachelor oder den Master - notwendige Anzahl von Punkten werden nach gemeinsam festgelegten Kriterien vergeben. Das rein quantitative System der Erfassung von Studienleistungen mit Hilfe eines Creditpoint-Saldos wird durch ein zusätzliches qualitatives Kriterium ergänzt, die ETCS-Noten. Diese verbinden absolute numerische Notenwerte mit der relativen Rangierung einer/s Studierenden im Verhältnis zu einer Referenzgruppe. Dabei ist der Verteilungsschlüssel in allen Schulen durch einen Prozentsatz fest vorgegeben. 10% der Studierenden erhalten in der Regel die beste Note A („Hervorragend"), 25% die Note B („Sehr gut"), 55% liegen mit „Gut" oder „Befriedigend" im Mittelfeld und 10% sind lediglich „Ausreichend" oder erhalten ein „Nicht bestanden".
Als Argument für die Einführung europaweit standardisierter Bewertungskriterien für Studienleistungen wird immer wieder vorgebracht, dass die Durchlässigkeit und Flexibilität für Studierende, der „verlustfreie" Transfer von einer zur andern Abteilung oder Universität einfacher werde. Tatsächlich war der Wechsel von einem Fach in das andere oder von einer Hochschule in die andere nie ein wesentliches Problem und die zusätzlichen Anstrengungen, welche allenfalls notwendig sind, um den Anschluss zu erhalten, werden durch die Begegnung mit anderen Vorgehensweisen, Unterrichtsstilen und -Schwerpunkten in der Regel längst aufgewogen. Die Vergleichbarkeit von Abschlüssen ist in erster Linie auch eine Forderung international und global agierender Firmen, die darauf angewiesen sind, nach einheitlichen Standards Personal zu rekrutieren.
Die scheinbar rein formalen und technischen Anpassungen, welche gemäß der Bologna Deklaration nun alle Staaten bis 2010 umsetzen müssen, haben fundamentale Eingriffe ins Bildungssystem zur Folge. Die für die Bewertung der Studienleistungen notwenige Modularisierung der Bildungsgänge behindert oder verunmöglicht kontinuierliche, langfristige und komplexere Formen des Unterrichts und fördert das additive, schulische „Kurswesen". Das ECTS-System erinnert nicht zufällig an eine Art Währung. Transparenz, Vergleichbarkeit des Angebots und ein konvertierbares Bewertungssystem gehören zu den zentralen Merkmalen eines Marktes im Sinne klassischer ökonomischer Theorie. Bei der Studienplanung müssen in Zukunft strategische Überlegungen, wie für einen bestimmten Abschluss die notwendigen Punkte möglichst schnell und effizient verdient werden können, mit den effektiven Interessen in Einklang gebracht werden. Die angestrebten kurzen Studienzeiten und schnellen Abschlüsse stellen bisherige Qualitäten der Hochschulausbildung grundsätzlich in Frage, nämlich die Chance, einmal im Leben Zeit zu haben, Wissen zu sammeln und neue Zusammenhänge zu entdecken. Das ETCS-Notensystem schließlich schreibt von vornherein fest, dass, letztlich unabhängig von individuellen und kollektiven Anstrengungen, unter dem Strich immer eine Elite von ungefähr 10% das Rennen machen wird. Die Einführung einer Art „Darwin-Konstante" im Bildungssystem dürfte längerfristig das Ende der gesellschaftlichen Vereinbarung „Bildung für alle - Chance für alle" bedeuten.
Das Abkommen von Bologna ist also Ausdruck einer sowohl symbolisch wie realpolitisch wirksamen liberalistischen Politik, in welcher die einzelnen Nationalstaaten zwar ihr Monopol bei der Durchsetzung und Kontrolle von Regeln ausbauen, aber die Verantwortung für die eigentlichen Entscheidungen zunehmend an internationale Expertengremien delegiert werden. Die Konferenz von Bologna kann in diesem Sinne in einer Reihe mit dem Treffen der Weltbank in Seattle 1998, dem Treffen der Finanzminister in Prag 1999 oder dem G8 Gipfel in Genua 2001 gesehen werden, alles Ereignisse, deren politische Dimension in einer größeren Öffentlichkeit nur dank der Proteste der Antiglobalisierungsbewegung wahrgenommen wurde. Unter dem Suchbegriff „Bologna Agreement" findet man übrigens auch eine ständig größer werdende Anzahl von Aktionen und Initiativen gegen „Bologna" und die sich abzeichnende neue Bildungslandschaft Europas. Zentrales gemeinsames Anliegen ist der Kampf gegen die Ökonomisierung der Bildung.

4. Qualitätsmanagement

In unseren Interviews mit Verantwortlichen aus dem Umfeld der HGK Zürich und bei der Durchsicht von Grundlagenpapieren zur Bildungspolitik stießen wir immer wieder auf den Begriffe der Qualität. Politiker, Bildungsbeauftragte, Rektoren und Studienbereichverantwortliche, sie alle Reden von der Qualität. Diese gälte es zu verbessern, zu sichern, zu erhöhen, anzugleichen etc. Was kann mit Qualität gemeint sein, wenn das Abkommen von Bologna nur strukturelle und technische Anpassungen vorschreibt? Aus der Perspektive von Kulturarbeit würden wir Qualität in der Bildung am ehesten mit besonders originellen, spannenden, unterhaltenden und anregenden Formen der Lehre in Verbindung bringen. Dabei spielten vermutlich angemessene und kontextbezogene Formen des Lernens eine wichtige Rolle. Tatsächlich wird der Qualitätsbegriff in der Bildungspolitik - und nicht nur dort, auch in der Industrieproduktion oder im Finanzmarkt - heute ganz anders verwendet. Qualität meint die Sicherung von Standards. Als „Qualitätsmanagement" werden Techniken bezeichnet, mit welchen Arbeitsprozesse, Strukturen und alle, die dazu beitragen oder daran teilhaben, laufend überprüft und an vorgegebene Standards angepasst werden. Die Forderung nach Qualität bezieht sich oft einzig und allein auf die strukturelle Optimierung des Systems. Mit „Qualitätssicherung" ist der „möglichst reibungslose Ablauf" gemeint.
Das neue Qualitätsmanagement-Dossier der HGK Zürich zur Beurteilung der Lehre umfasst 13 Seiten Formulare. Die einzelnen Beurteilungs- und Evaluations-Schritte wurden in den Lehrplan integriert und die Zuständigkeiten in neuen Arbeitsverträgen festgeschrieben. Am Ende jeder Unterrichtseinheit sind Studierende verpflichtet, den eigenen Lernerfolg, die Angemessenheit des Stoffs und die Methode der Dozierenden zu beurteilen. In einem ähnlichen Prozess bewerten die Dozierenden die Studierenden, die Studienbereichsleiter die Dozierenden und ihre eigenen Studienvorgaben, die Verantwortlichen der Departments die Studienbereiche, die Schulleitung die Verantwortlichen der Departments, der Hochschulrat die Schulleitung und so weiter. Das in die Lehre implementierte Quality Management (QM) beschäftigt so Dozierende und Studierende im Prinzip rund ums Jahr.
„Quality Management" als Evaluationstechnik funktioniert unabhängig davon, ob es sich um eine Sache, ein Produkt, eine Dienstleistung oder eine Person handelt. In einem geschlossenen Kreis werden unter Allen, die an einem bestimmten Prozess beteiligt sind, Zielvorgaben definiert und für verbindlich erklärt. Die Grundvorgaben werden in der Regel von Experten ausgearbeitet oder aus ähnlichen Problemzusammenhängen, in denen sie sich bereits bewährt haben, übernommen und wenn nötig den spezifischen Bedingungen angepasst. In einem zweiten Schritt werden alle Teile und Beteiligte eines Prozesses nach einem vorgegebenen Schema hinsichtlich der Zielsetzung beurteilt. Die Auswertung führt wiederum entweder zur Definition von Zielen und Maßnahmen, dort, wo die Vorgaben verfehlt wurden, oder aber zur Anpassung der Vorgaben, wenn sich herausstellt, dass diese nicht (mehr) angemessen sein sollten. Das Verfahren ist sequentiell, das Prozedere muss nach einer bestimmten Frist erneut durchgeführt werden. Bei entsprechender Verdichtung der Bewertungs- und Auswertungssequenzen sind im Prinzip ein kontinuierlicher Response und laufende Anpassungen denkbar. QM ist eine Art objektiviertes Selbstregulierungs- und Selbstnormierungssystem.
Bereits in „Überwachen und Strafen" führt Michel Foucault Normen und Normierungssysteme als einen neuen Aspekt von Macht ein. „Sagen wir vorsichtiger, dass seit dem 18. Jahrhundert die Macht der Norm zu andern Mächten hinzutritt und neue Grenzziehungen erzwingt: zur Macht des Gesetztes, zur Macht des Wortes und des Textes, zur Macht der Tradition. Das Normale etabliert sich als Zwangsprinzip im Unterricht zusammen mit der Einführung einer standardisierten Erziehung und der Errichtung der Normalschulen; es etabliert sich in dem Bemühen, einen einheitliches Korpus der Medizin und eine durchgängige Spitalversorgung der Nation zu schaffen, womit allgemeine Gesundheitsnormen durchgesetzt werden sollen; es etabliert sich in der Regulierung und Reglementierung der industriellen Verfahren und Produkte."5 Im Gegensatz zu einem Reglement, welches von der Leitung zwar erlassen wird, dessen Beachtung aber nur schwer kontrolliert werden kann, ist QM ein Prozess, in den alle involviert sind und sich letztlich gegenseitig kontrollieren. Das bloße Befolgen von Regeln wird durch das partizipative Einüben einer bestimmten Praxis abgelöst. Der beabsichtigte Effekt der Reglementierung und Disziplinierung lässt sich so eindeutig steigern.
Flexibilisierung bei gleichzeitiger Homogenisierung sind die zentralen Merkmale des laufenden gesellschaftlichen Umbaus. Was an der Oberfläche liberal und offen schillert, basiert auf einer tieferen Ebene auf einem ausschließenden Katalog von Normen. Hierarchien werden zwar fließend, der Rahmen, innerhalb dessen Mitsprache vorgesehen ist, dafür aber umso präziser definiert, der Spielraum für individuelle Interpretationen und Auslegungen wird ständig kleiner. Unsere Ausbildung können und sollen wir in Zukunft unseren Bedürfnissen entsprechend frei zusammenstellen, gleichzeitig übernehmen wir damit aber auch die volle Verantwortung, die gesteckten Ziele zu erreichen, z.B. auch dann, wenn die Ressourcen knapper werden. Individualisierung und wachsende Eigenverantwortlichkeit stehen aber nur scheinbar in einem Gegensatz zu den immer ausdifferenzierteren Regeln, Normen und Techniken gesellschaftlicher Kontrolle und Organisation. „Das Individuum ist zweifellos das fiktive Atom einer &Mac226;ideologischen' Vorstellung der Gesellschaft; es ist aber auch eine Realität, die von der spezifischen Machttechnologie der &Mac226;Disziplin' produziert worden ist. Man muss aufhören, die Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben, als ob sie nur ausschließen, unterdrücken, verdrängen, zensieren, abstrahieren, maskieren, verschleiern würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion."6 Wir müssen davon ausgehen, dass die Anrufung immer flexiblerer und ausgeprägter individualisierter Subjekte auch immer avanciertere Disziplinierungstechniken - und als solches muss man QM und Self Government in Wahrheit bezeichnen - voraussetzt. Die Einführung von Qualitätsmanagement und der damit verbundene Aufbau neuer Verwaltungsstrukturen läuft im aktuellen Reformprozess der HGK Zürich parallel zur Übernahme der internationalen Normen. Das QM ist auf der Ebene der Institution eines der zentralen Tools zur Durchsetzung neuer Verhältnisse.

4. Auf, nach Pisa!

„Pisa" hielt Medien und Politiker fast 3 Jahre lang im Atem. Die Bezeichnung PISA nimmt im Gegensatz zu „Bologna" keinen symbolischen Bezug auf die reale Stadt in Italien, etwa im Sinne einer Jahrhunderte alten Tradition der schiefen Türme, sondern ist die Abkürzung für Programme for International Student Assessment. Die PISA Studie wurde von der OECD entwickelt und erstmals 2000 in 32 verschiedenen Ländern durchgeführt. PISA ist laut Einführungstext einer Broschüre des Max-Planck-Instituts „Teil des Indikatorenprogramms der OECD, dessen Ziel es ist, den OECD-Mitgliedstaaten vergleichende Daten über die Ressourcenausstattung, individuellen Nutzungen sowie Funktions- und Leistungsfähigkeit ihrer Bildungssysteme zur Verfügung zu stellen. [...] Ertragsindikatoren [...], die für politisch-administrative Entscheidungen zur Verbesserung der nationalen Bildungssysteme brauchbar sind."7 Die „Indikatoren", welche erhoben werden, beziehen sich im wesentlichen auf vier Bereiche: Lesekompetenz (Reading Literacy), mathematische Kompetenz (Mathematical Literacy), naturwissenschaftliche Grundausbildung (Scientific Literacy) und fächerübergreifende Kompetenzen (Cross-Curricular Competencies). PISA ist also eine international standardisierte Prüfung, die von den Teilnehmerstaaten gemeinsam entwickelt wurde und in Zukunft mit 15-jährigen Schülerinnen und Schülern regelmäßig durchgeführt werden soll. Schwerpunkt des Durchlaufs 2000 war die Lesekompetenz. Pro Land wurden 4.500 bis 10.000 Schüler/innen getestet. Im PISA-Test gibt es Noten ausnahmsweise nicht für individuelle Leistungen, sondern für die Leistung einer bestimmten Gruppe. Das kann eine Klasse oder eine Schule sein, eine Stadt, eine Region oder ein ganzes Land, je nachdem, wie die Ergebnisse ausgewertet werden. Der PISA-Studie liegt ein banales Prinzip zugrunde. Indem überall in Europa dieselben Aufgaben gelöst werden, lässt sich eine Form von Vergleichbarkeit und Transparenz herstellen. Ungeachtet vielfältiger Kontexte und komplexer sozialer und kultureller Zusammenhänge, repräsentieren die punktuellen Ergebnisse einer willkürlichen Zielgruppe von Testpersonen eine Norm für eine Gesamtheit. Interessant ist es, sich die Art der im PISA-Test gestellten Aufgaben genauer anzusehen. Ganz offensichtlich ist es nicht einfach, Fragenstellungen und vor allem Auswertungsrichtlinien zu erfinden, die kontextunabhängig funktionieren sollen. Im Test zur Lesekompetenz stießen wir z.B. auf eine Aufgabe, bei der Schüler/innen zwei kurze Statements über Graffiti lesen und anschließend kommentieren müssen. Im ersten Statement meint „Helga": „Meiner Meinung nach sind Gebäude, Zäune und Parkbänke an sich schon Kunstwerke. Es ist wirklich armselig, diese Architektur mit Graffiti zu verschandeln, und außerdem zerstört die Methode die Ozonschicht. Wirklich, ich kann nicht begreifen, warum diese kriminellen Künstler sich so viel Mühe machen, wo ihre „Kunstwerke" doch bloß immer wieder beseitigt werden und keiner sie mehr sieht." Im zweiten Statement kontert „Sophia" mit der Aussage: „Über Geschmack lässt sich streiten. Die Gesellschaft ist voll von Kommunikation und Werbung. Firmenlogos, Ladennamen. Große, aufdringliche Plakate in den Straßen. Sind sie akzeptabel? Ja, meistens. Sind Graffitis akzeptabel? Manche Leute sagen ja, manche nein. Wer zahlt den Preis für das Graffiti? Wer zahlt letzten Endes den Preis für die Werbung? Richtig! Der Verbraucher." Die zur Aufgabe gehörenden Fragen werden dann wie folgt eingeleitet: „Die beiden Briefe auf der gegenüberliegenden Seite kommen aus dem Internet, und es geht in ihnen um Graffiti. Graffiti sind verbotene Malereien und Schrift an Wänden und anderswo. Beziehe dich auf die Briefe, um die anschließenden Fragen zu beantworten."8 Auf uns wirken solche Aufgaben nicht besonders objektiv, sondern eher wie eine perfide Vermengung von Lesekompetenztest, pädagogischem Anspruch und Anbiederung an jugendkulturelle Themen. Wir haben nirgends Angaben dazu gefunden, ob aus dem Material von PISA noch andere Daten erhoben wurden, als die verschiedenen Kompetenz-Indikatoren. Immerhin wäre es ja denkbar, aus den Antworten der Jugendlichen Stimmungsbilder zu bestimmten politischen Fragen herauszufiltern.
Weit dramatischer als der Test selber ist seine öffentliche, mediale Wirkung. Was der Politik „Indikatoren für zukünftige Entscheidungen" liefern soll, lancierte in Tat und Wahrheit den freien Wettbewerb zwischen Bildungsstandorten und Bildungssystemen. CDU-regierte Länder schlagen die SPD-regierten. Finnland ist obenauf, Hamburg besonders schwach. Bildungspolitik lässt sich nun auf die einfache Formel des PISA-Ratings reduzieren. Die Schulmodelle der Testsieger werden zum Exportartikel. Schüler/innen suchen sich den passenden Bildungsstandort gemäß optimaler Literacy-Indikatoren aus und verantwortungsbewusste Eltern wählen den Wohnort nach einer geeigneten Kombination von Steuersatz und PISA-Quote.
PISA lieferte der Politik das plausible Argument, wie dringlich Reformen seien. Erst die Polemik rund um die Ergebnisse der Studie schuf das richtige Klima, um die unpopulären Vorgaben aus Bologna nun auch umzusetzen. Das scheinbar harmlose, technische Instrument eines standardisierten Tests stellt sich als ein wirksamer Hebel heraus, mit dem ein ganzes Bildungssystem destabilisiert werden kann. Dass PISA mehr ist, als die Erhebung „einiger Indikatoren", ist einfacher zu verstehen, wenn man sich nochmals Foucaults fundamentale Kritik der Technologie der Prüfung vergegenwärtigt. „Die Prüfung kombiniert die Techniken der überwachenden Hierarchie mit denjenigen der normierenden Sanktion. Sie ist ein normierender Blick, eine qualifizierende, klassifizierende und bestrafende Überwachung. Sie errichtet über den Individuen eine Sichtbarkeit, in der man sie differenzierend behandelt. Darum ist in allen Disziplinaranstalten die Prüfung so stark ritualisiert. In ihr verknüpfen sich das Zeremoniell der Macht und die Formalität des Experiments, die Entfaltung der Stärke und die Ermittlung der Wahrheit." 9 Das unverdächtige, liberale Image, welches „moderne Techniken" des Regierens heute genießen - wie etwa Meinungsumfragen und wissenschaftliche, vergleichende Studien - verschleiert deren tatsächliche Effekte der Disziplinierung und Anpassung. PISA ist ein Beispiel dafür.
2003 findet die von PISA ausgelöste, angebliche große „Sorge um den Bildungsstandort" ein überraschendes Ende. Ein neues, noch dringlicheres Reformargument ist gefunden, das Sparen. Das Defizit in der Staatskasse, welches zum Beispiel im Fall von Zürich wesentlich auf die von bürgerlichen Kräften durchgesetzten Steuersenkungen der letzten paar Jahre zurückzuführen ist, erscheint faktisch unangreifbar. Als fatale Dynamik könnte sich die Kombination von PISA-Effekt und Sparen herausstellen. Im Abkommen von Bologna wird stillschweigend akzeptiert, dass die zentrale Frage, welche Bildung wir denn nun wollen, welche angemessenen ist, dem „Markt" überlassen werden soll. Richtig scheint jene Bildung zu sein, nach der die Nachfrage groß ist, mit der sich Schulen und Studienbereiche ganz besonders profilieren und auch bald einen entsprechend hohen Preis erzielen werden. Im freien Wettbewerb ist es egal, ob eine Schule öffentlich oder privat organisiert ist. Wenn private Bildungsanbieter in zukünftigen Tests den besseren Durchschnitt erreichen und auf Grund ihrer oft spezialisierten Ausrichtung besonders kosteneffizient arbeiten, wird es noch schwieriger, für das öffentliche Schulsystem zu argumentieren. Um unerwünschten „Marktverzerrungen" entgegenzuwirken, müssten - denkt man die Vision eines ökonomistischen Bildungssystems zu Ende - öffentliche Subventionen für Bildung längerfristig abgebaut oder z.B. in Form von persönlichen Bildungsdarlehen jedem für die individuelle Wahl einer Schule privat zur Verfügung gestellt werden. Genau in diese Richtung aber laufen Sparmassnahmen, wie etwa die Kürzungen der Subventionen für Institutionen oder die Erhöhung des privat zu finanzierenden Anteils, z.B. durch die Erhöhung von Studiengebühren. Dass ein Bildungsmarkt anstelle einer Bildungslandschaft für die Wirtschaft eine ökonomisch hochinteressante Perspektive darstellt, die vermutlich das Potential von Biotechnologie um ein Vielfaches übertreffen würde, kann man sich einfach vorstellen. Ohne genauer recherchiert zu haben, sind wir zufällig auf eine aufschlussreiche Zahl gestoßen. Jährlich bilden sich in der Schweiz laut Bundesamt für Statistik 1,9 Millionen Erwachsene in 2,7 Millionen Kursen während 123 Millionen Stunden weiter. Dies sind immerhin 39 Prozent der Bevölkerung und bei einem durchschnittlichen Kursgeld von, sagen wir einmal, bescheidenen 20 Euro pro Stunde würden alleine in der Schweiz knapp 2.5 Milliarden Euro umgesetzt.

Unser kleiner Ausflug in die Bildungslandschaft hat sich vielleicht doch gelohnt. Die Recherchen der laufenden Reformen an der HGK Zürich brachten einige überraschende Erkenntnisse, die weit über den spezifischen Fall einer einzelnen Schule hinausgehen. Wir begriffen, dass sich Machtverhältnisse sehr viel einfacher reformieren als abschaffen lassen. Wir bekamen einen Einblick in die Funktionsweise neuer, scheinbar partizipativer Techniken des Regierens, die sich dann doch bloß als disziplinierende und normierende Maßnahmen herausstellen. Außerdem erkannten wir, dass hinter dem vornehmlich organisatorisch und technisch argumentierten Umbau des Bildungssystems ein ideologisches Programm wirkt, welches durch die Einführung von Eigenverantwortlichkeit (Lifelonglearning), die Modularisierung von Lerninhalten, den Aufbau „unternehmerisch" organisierter Verwaltungsstrukturen und die Senkung öffentlicher Mittel die Bildungslandschaft in einen Bildungsmarkt transformieren will. Dabei hatten wir durchaus auch einige Ideen, wie diese Entwicklung zu unseren Gunsten benutzt werden könnte, etwa indem das „Reformklima" absichtlich missverstanden und ganz neue Modelle des Unterrichts und der Mitsprache gefordert werden, die PISA-Tests und alle kommenden Studien boykottiert oder für kreative Selbsterfahrungstrips missbraucht werden, der Rahmen von Modulen durch Eigeninitiative und freiwillige Projektarbeit gesprengt und ETCS-Punkte sinnlos akkumuliert und auf dem Schwarzmarkt verkauft werden. Was dagegen vermutlich nur wenig bringt, ist die Demonstration gegen höhere Studiengebühren.


Anmerkungen:

1 Ivan Illich, Schulen helfen nicht, Rowohlt Hamburg, 1972, S. 27ff
2 Bildungsdirektion Kanton Zürich, Konsolidierter Entwicklungs- und Finanzplan 2000 - 2003 des Kantons Zürich, Zürich, 15.9.1999
3 Erziehung für das 21. Jahrhundert, Nationales Forschungsprogramm 33, Kongress an der Universität Neuenburg, 29.9. - 2.10. 1999, Wirksamkeit unserer BildungssystemeWandel im Bildungswesen: Von der Vision zur Realpolitik, Referat von Bildungsdirektor Ernst Buschor
4 Gibt es hier eine URL, die angegeben werden kann? Beim spontanan googeln konnte ich nichts finden. Finde ich auf dem Netz auch nicht mehr... war damals an erster Stelle beim Suchen, weil sich sonst noch niemand damit befasste auf dem Netz... Habe irgendwo Ausdrucke, aber tief im Archiv. Gehe suchen, falls es superdringend ist. Sonst evtl. einfach weglassen.
5 Michel Foucault, Überwachen und Strafen - Die Geburt des Gefängnisses, Suhrkamp Frankfurt a. M., 1976, S.237
6 Michel Foucault, Überwachen und Strafen - Die Geburt des Gefängnisses, Suhrkamp Frankfurt a. M., 1976, S.249
7 Das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin ist mit der Durchführung von PISA in Deutschland beauftragt.
8 OECD, PISA 2000. Beispielaufgaben aus dem Lesekompetenztest, 2000, (siehe z.B. unter http://www.tresselt.de/download/pisaL.pdf)
9Michel Foucault, Überwachen und Strafen - Die Geburt des Gefängnisses, Suhrkamp Frankfurt a. M., 1976, S.238


Peter Spillmann
2003/2004

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