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Materialien zur Dekonstruktion einer Landschaft Überlegungen zum Projekt im Kunsthaus Glarus, 1996 Ausstellungskontext: Strategien der Kunst der 90er Jahre 1997 wurde ich von Annette Schindler und Madeleine Schuppli zu einem Ausstellungsprojekt im Kunsthaus Glarus eingeladen, welches den Titel trug Strategien der Kunst in den 90er Jahren. Vorgegebener Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Arbeit war die Auseinandersetzung mit einer in der Nähe von Glarus liegenden Gegend, dem Klöntal. Das Klöntal hat durch seine besondere Geschichte für die Region und darüber hinaus eine besondere Bedeutung. Von Malern und Dichtern wegen seiner angeblich einzigartigen landschaftlichen Schönheit verehrt und verewigt, bei Forschern wegen seinen Kalkformationen und Höhlensystemen berühmt und von der Bevölkerung wegen den lauschigen Badeplätzen am Bergsee beliebt, stellt das Klöntal kulturhistorisch eine fast prototypische alpine Ideallandschaft dar. Für die zumindest lokale Kontinuität der ruhmvollen Geschichte des Klöntals sorgt der Kunstsammler Peter Kamm, der jeden Sommer in der Umgebung der einstigen Künstlerkolonie Vorderau, eine Freilichtausstellung veranstaltet. Er hat das Kunsthaus Glarus angefragt, mit zeitgenössischen künstlerischen Projekten zu partizipieren. Bereits im Konzept der Ausstellung waren zwei Elemente implizit angelegt, die als spezifische Attribute der Kunst der 90er Jahren angenommen wurden: Sitespecifity und projektorientierte, thematische Recherche. Darüber hinaus wurde von den Kuratorinnen der Anspruch formuliert, künslterische Positionen zu zeigen, die traditionelle Formate sprengen, eine nicht ganz unproblematische Vorgabe, wenn sie von Seiten der Institution gemacht wird, die traditionellen Formate von Kunst überhaupt erst mit konstituiert hat. Angefragt wurden EinzelkünstlerInnen aus der Schweiz, die von ihrer Arbeitsweise her in das Konzept passen könnten. Dazu gehörten Christoph Büchel, das Künstlerpaar Klara Schilliger/Valerian Maly, Maurs Gmür und Ursula Biemann. Durch die eher konventionelle Einzelansprache und die gleich zu Beginn formulierten Ideen der einzelnen KünstlerInnen, war - was ein weiterer Aspekt künstlerischer Strategien in den 90er gewesen wäre - ein kollektives Vorgehen ausgeschlossen. Arbeitsstrategie: Das grosse Rauschen Mich interessierte es, im gegebenen Kontext, Parallelen zwischen der Konstruktion authentischer Landschaften und authentischer Kunst herauszuarbeiten und sowohl gegenüber dem Ausstellungskontext als auch dem Klöntal als realer Untersuchungsgegenstand die strategische Position des Entzugs und der Dekonstruktion einzunehmen. Das führte schliesslich zur Idee, die Arbeit auf dem damals eben populär werdenden Internet anzusiedeln und mich damit sowohl aus dem Museum wie aus der vertrauten Landschaft zurückzuziehen. Mein Konzept mit dem Titel Materialien zur Dekonstruktion einer Landschaft sah vor, in einem virtuellen Archiv alle Texte zu sammeln, die je über das Klöntal geschrieben wurden, die kulturelle Konstruktion Klöntal vollständig zu dokumentieren und somit verhandelbar zu machen. Ausserdem wollte ich herausfinden, wieviel von den in der Region kursierenden Geschichten und Meinungen zum Klöntal effektiv auf den historischen, kulturellen, in der Regel von Fremden, nicht ortsansässigen Reisenden, Künstler und Wissenschaftler geschriebenen Text zurückgeführt werden kann, oder ob es im öffentlichen Bewusstsein überhaupt etwas gibt, was davon autonom ist Das Archiv auf dem Internet wurde in der Region mittels Inserate und Plakataushang - ganz im Sinne der damals massiv laufenden Kampagnen von Providern, die das Internet als Imperativ der Zukunft stark zu machen versuchten - als das eigentliche, in Zukunft einzig relevante Klöntal beworben. Durch die Tatsache, dass zu dem Zeitpunkt in der Region Glarus praktisch kein Internetanschluss vorhanden war, bekam die Aktion ein wenig den Charakter von einer Entführung des eigenen, geliebten Klöntals. Beim Sammeln der Texte, stellte sich dann schnell heraus, dass der Anspruch, alle Texte in einem Archiv zu vereinen, aus finanziellen und zeitlichen Gründen nicht realisierbar war. Die Texte mussten alle neu erfasst werden, da praktisch nichts elektronisch vorlag. Dafür ermöglichte das Internet die direkte Partizipation interessierter BesucherInnen der Website mit eigenen Geschichten und Berichten am kollektiven Text Klöntal. Damit liess sich zumindest glaubwürdig suggerieren, dass sich die Geschichte des Klöntals nun vollständig losgelöst von der realen Gegend, im Universum des Textes, weiter entwickeln könnte. Um das Projekt dem lokalen Publikum doch noch zugänglich zu machen, hat das Kunsthaus kurz vor Eröffnung der Ausstellung einen Internetanschluss eingerichtet und Terminals zum Surfen aufgestellt und so meine lokal praktisch unzugängliche Informationsregion erschlossen. Die Entdeckung der Landschaft Die Geschichte der Entdeckung der Berge als ein besonderer Typ Landschaft beginnt offiziell mit einem Text vom italienischen Philosophen Petrarca. In seiner berühmt gewordenen Erzählung beschreibt er in Form eines Briefes, wie er im Jahr 1336 als erster einen Berg - den Mont Ventoux in Südfrankreich - besteigt. Die Hirten, welche an den Hängen des Berges ihre Herden hüteten, raten dem entschlossenen Entdecker ab, den Berg zu besteigen, denn noch nie sei jemand von dort zurückgekehrt und wenn, dann ohne seinen Verstand. Petrarca lässt sich nicht einschüchtern und machte sich, nachdem auch sein Bruder, der ihn begleiten wollte, vom Mut verlassen wurde, alleine auf den Weg. Oben angekommen ist Petrarca überwältigt von der ungewohnten Aussicht, vom Überblick über unzählige Hügel, Felder, Wälder und Städte und von der unerreichbaren Ferne der Menschen. Was er sieht, kann er weder beschreiben noch weiss er es zu deuten. Um Erklärung ringend, schlägt er eine Schrift von Augustinus auf, die er bei sich trägt. Als würde er in einem Orakel lesen, handelte die zufällig aufgeschlagene Stelle vom Menschen, der die hohen Bergen, die Weiten des Ozeans und die Veränderung der Sterne beobachtet und dabei nichts über das Naheliegenste, über seine eigene Seele weiss. Entsetzt von dieser Einsicht wendete er sich von der Aussenwelt ab, steigt ins Tal hinab und beschreibt den Berg, als den Ort der göttlichen Inspiration und die Besteigung eines Gipfels als ein Weg zur Erkenntnis. Zentralen Motive aus der Legende vom Mont Ventoux prägten in der Folge die gesamte Geschichte der Entdeckung der Alpen. Von der Sehnsucht der Romantik bis zum Pathos des British Alpine Club, stellen die Alpen und ihre Bewohner eine Projektionsfläche dar, für das, was ausserhalb der eigenen, angeblich dekadenten Zivilisation, jenseits rationaler Erkenntnis und über dem eigenen physischen Limit liegt. Das Bezeichnen, Benennen und Kategorisieren, die Zuflucht zum Text, zur metaphorischen Beschreibung und zum symbolischen Bild, sind seit der Neuzeit die zentralen europäischen, kulturellen Techniken zur Aneignung von Wissen und zur Erschliessung neuer Territorien. Innerhalb dieser Beschreibungen werden mit dem Konzept einer Natur Felder und Territorien beschrieben, die gerade im Begriff sind, Gegenstand handfester wissenschaftlicher, ökonomischer oder politischer Interesse zu werden und verschleiert die Naturalisierung von Erscheinungen die ihnen zugrunde liegenden Definitions- und Besitzansprüche. Die Distanz zwischen einem angeblich niederen Alltag und der reinen grossen Landschaft der Berge und dem ursprünglichen Leben seiner Bewohner musste erst herbei erzählt, herbei gemalt und herbei geschrieben werden, um die neuen Landschaften erschliessen und die unterschiedliche Lebensweise kolonialisieren zu können. So ist denn auch der Bericht von Karl Gotthard Grass über seine Reise ins Klöntal von 1796, eine eigenartige Mischung aus Reisetagebuch, poetischen Schwärmereien - an zwei Stellen schreibt er sogar in Versform - und wissenschaftlichen Beobachtungen. Exakt vermerkt werden darin diejenigen Stellen in der Landschaft, welche angeblich besonders malerische Anblicke boten und wo die Reisegruppe Skizzen für Gemälde erstellt hat. Sein Bericht wird so zu einem prädisziplinären, kulturellen Metatext. Nebst den Bildern, die daraus später entstanden, hat Grass noch im selben Jahr zuhanden eine Reise in die Berge vorhabender Künstler (Titel) ein Führer verfasst . Der Wissenschaftler, der Künstler und der Tourist sind alles Aspekte des einen kulturellen Subjekts, welches die klassische Landschaft überhaupt erst erfunden hat. Landschaft als kulturelles Thema Die Beschäftigung mit der Landschaft ist aus einer kulturellen Perspektive interessant, weil in den Landschaften die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen einer Gesellschaft, die sich immer noch im wesentlichen ganz direkt im realen Raum abzeichnen, sichtbar und erfahrbar werden. Landschaft ist die von Spuren und Überresten aktueller und historischer Lebenswelten und gesellschaftlicher, politischer Systeme gezeichnete Oberfläche, Spuren im realen Raum und in der kollektiven Erinnerung. Landschaften entstehen durch die Nutzung des Bodens, durch die Bezeichnung von Orten. Landschaften konstituieren sich über Territorien, Verbindungsrouten, Punkte und Zwischenräume, durch Entdeckungsreisen und Besitzansprüche und durch Siedlungen und Niederlassungen und durch das Verlassen von Orten. Landschaften sind der Interaktionsraum zwischen kulturellen Systemen und den (physischen, topografischen, biologischen, strategischen etc.) Gegebenheiten von Orten. Landschaften sind die immer noch erstaunlich grossen Zwischenräume zwischen den Metropolen, Projektionsflächen für gesellschaftliche Wünsche und Begehren ausserhalb der Subjekte. Das spannende an Landschaften sind ihre komplexen Topologien, das Zusammenspiel von geografischen und kulturellen Aspekten, die Diskontinuität von Territorien, die sich daraus ergibt, die Eigenheiten unterschiedlicher Lagen, Zusammenhänge und Grenzen auf räumlicher, historischer und sozialer Ebene, die Leerstellen und Zwischenräume, die in der Regel überwiegen. Peter Spillmann 8/2003 |
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