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Die Legende vom Künstler

Es war ein schöner Sommertag in einer abgelegenen ländlichen, sanfthügeligen Gegend in Frankreich oder in Italien auf einer Schafweide, wo der erste Künstler der europäischen Kulturgeschichte entdeckt wurde. Da sass ein Jüngling, noch fast ein Kind an einer geschützten Stelle mit dem Rücken gegen einen grossen Stein gelehnt, gelangweilt, Tag für Tag bei seiner Herde und musste aufpassen, dass sich keines der Schafe zu weit entfernte. Selbstvergessen und mehr zum Zeitvertrieb begann er einfache Ansichten von den umliegenden Hügel, den Tieren, Bäumen und Steinen in den Sand vor sich zu ritzen. Und wenn ihm das so entstandene Bild nicht mehr passte, wischte er es mit dem Ärmel seiner Hirtenchutte schnell weg. Mit der Zeit fügte er hie und da geschickt Motive aus der Phantasie in seine Zeichnungen ein, etwa dass Antlitz eines Mädchens aus dem Dorfe, welches ihm besonders gefiel oder phantastische Ansichten von Städten und Ländern, die er nie gesehen hatte und schuffte sich so eine eigene, kleine Welt. Das ging solange gut, bis zufällig an eben diesem einen schönen Sommertag ein Wanderer genau an dieser Stelle beim grossen Stein vorbeikam, wo sich der Jüngling am Mittag niedergelassen und sich seine Langeweile mit Zeichnen vertrieben hat. Der Wanderer war ein Fremder aus der fernen Stadt, und wie er den Jüngling und seine Zeichung sah, erkannte er die grosse Begabung. Er brachte den Schaf- hirten in die Stadt, sorgte für die richtige Ausbildung und machte so den ersten grossen Künstler aus ihm.

Diese schöne kleine Legende durchzieht die gesamte europäische Kulturgeschichte von der Antike bis in die Neuzeit wie ein roter Faden. Sie beschreibt ein biografisches Motiv, welches in unzähligen Varianten in den Biografien der ersten grossen Künstler so oder leicht abgeändert vorkommt. Ob Lysipp, der Bildhauer aus der Antike, Giotto, Mantegna oder Messerschmidt, immer legt sich die Legende vom einfachen Jungen, dessen Talent zufallig von einem fremden Reisenden entdeckt und gefördert wurde, wie ein Schleier über persönliche oder familiäre und soziale Details ihrer Herkunft und Kindheit und wird in den sonst sehr unterschiedlichen Biografien zu einer Art Schlüsselstelle der Künstlerwerdung. Gerade weil es sich dabei um ein derart überpersonliches und stereotypes Motiv handelt, das sich in die unterschiedlichsten Geschichten einschleicht, drängt sich die Annahme auf, dass das, was hier über das einzelne Künstler-Subjekt und seinen Werdegang erzählt wird, mehr mit gesellschaftlichen Zuschreibungen und Erwartungen zu tun hat als mit dem jeweils betroffenen Individuum.

Die Legende ist eine historische, wenigstens was den Schauplatz, das Ambiente und die Jobs der darin agierenden Personen anbelangt. Hingegen ist es auch heute noch die persönliche Biografie, über die die individuelle Geschichte und damit das unverwechselbare Subjekt – kulturell gesehen – festgeschrieben wird. Generationen von Kunstgeschichtsforscherlnnen, Kunstinteressierten, Feuilletonleserlnnen und Zuschauerlnnen hofften und hoffen darauf, in der Biografie eines Künstlers Aufschlüsse darüber zu finden, was eigentlich das allgemeine und besondere dieses Künstlers ausmacht. So erstaunt es denn auch nicht, dass es in Kunstzeitschriften, Kolumnen, Feuilletons, Dokumentarfilmen und Reportagen über aktuelle Künstlerlnnen nur so von Geschichten wimmelt, in denen wir problemlos die Motive der alten Künstler-Legende wieder erkennen können. Etwa wenn der Schafhirt in der Rolle des Spontipoeten im Waschsalon, als Compi-Freak, Kiez-Band- Punker, Ausstellungshütedienst, Grafiti-Sprayer, Offspace-Performer oder Street-Gang-Sprecher auftritt und sich dabei seine eigenen Geschichten und Bilder macht, seine Musik spielt und sich mit seinen Freunden amüsiert. Immer gibt es irgendeinen fremden Musik-Produzenten, Kunstkritiker, Trend- Kurator, Kulturjournalisten, Hollywood-Regisseur oder Microsort-Boss, der seine Socken waschen muss oder sonst aus irgend einem Grund zufällig im Waschsalon vorbeischaut, das besondere Talent sofort erkennt und dafür sorgt, dass auch die übrige Welt etwas davon hat. Auffällig ist, dass in allen Varianten dieser Geschichte immer zwei Parteien auftreten, welche, obschon sie offensichtlich aus sehr unterschiedlichen Welten und Millieus zu kommen scheinen, durch eine Art Fügung des Schicksals an den unmöglichsten Orten aufeinandertreffen. Der Figur des „zukünftigen Kunstlers“ kommt dabei die Rolle eines in einer „ursprunglichen“ „naturlichen“ Welt - oder wie das heute eher beschrieben würde „authentischen Szene" - aufgehobenen Subjekts zu, welches naiv, selbstvergessen und fast immer männlich ist, und dabei eine besondere Fähigkeit ungestört und unberührt von reflektiven (intellektuellen) Einflüssen entwickelt hat. Auf der anderen Seite aber steht der weltgewandte, gesell- schaftlich integrierte, erfahrene und angesehene Kulturbürger und Kunstkenner – übrigens auch fast immer männlich – der auf die eine oder andere Weise Teil der classe public und damit eine kulturelle „Autorität“ seiner Zeit ist und Zugang zu den Schulen, Medien oder Märkten hat.

In der nun folgenden oft dramatisch und einschneidend, manchmal auch nur ganz beiläufig beschriebenen Begegnung wird die Öffentlichkeit Zeuge, wie das geniale, authentische Potential des „begabten“ angehenden Künstlers durch geeignete Ausbildungs- oder Marketingstratgien eines legitimierten Vermittlers erschlossen, veröffentlicht und zu einem Teil der (geltenden) aktuellen Kultur gemacht wird. Während die „Begabung“ des Künstler-Subjekts die Voraussetzung für seine gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung darstellt, gewinnt die vermittelnde Autorität mit seiner „Neuentdeckung“ an kultureller Distinktion. Tatsächlich meint „Kultivierung“ in der westlichen/eurozentristischen Version von Kultur auch jenseits von irgendwelchen legendären Begegnungen vorerst einmal immer Herstellen von Verwertbarkeit, Integration neuer Ideen und Erschliessen von Ressourcen. Und genau um dieses zentrale Motiv kreist die Legende, unabhängig davon, ob sie von den eher traditionellen Gegenüberstellungen von „Natur“ und „Kultur“ in der Gestalt „unverdorbener junger Talente“ und ihrer etablierten Förderer oder von der aktuellen gezielten Verwertung jugend- und subkultureller Inhalte durch alle möglichen kleineren und grösseren Businesses handelt.
Nicht von ungefähr taucht in der Legende an zentraler Stelle auch das auf, was man als künstlerisches Werk bezeichnen könnte – eine Zeichnung, ein Sound oder sonst ein brauchbarer Code – dank dem (und nicht etwa aus rein menschlicher Sympathie) schliesslich die alles entscheidende Begegnung zustandekommt und Früchte trägt. Denn in der Logik einer auf kontinuierlicher und progressiver Akkumulation von Werten basierenden Idee von Kultur sind die autonomen Werke oder ausserordentlichen Leistungen die eigentlich zuverlässigen Optionen, während die Personen dahinter, der Künstler als besonderes, einmaliges und vergängliches Subjekt, letztlich nur eine Art Garantie für die Authentizität und Einzigartigkeit seiner Werke darstellt.

In weiteren Legenden, welche über Künstler erzählt werden, findet man denn auch die noch fast besser bekannte Passage, wo beschrieben wird, dass der Meister auf der Höhe seines Genies, lange nach der schicksalshaften Begegnung auf der Schafweide, seine Motive so naturgetreu und täuschend echt wiederzugeben vermochte, dass man das Abbild nicht mehr von der ihm zugrundeliegenden Realität unterscheiden konnte. Der Künstler ist nun also in der Lage, Artefakte zu schaffen, welche den – dem westlichen / europäischen Diskurs über Kultur eingeschriebenen – Grundwiderspruch zwischen „natürlich“ und „künstlich“ zu versöhnen und zu überwinden helfen. Der Glaube an diesen, im Laufe der Geschichte immer wieder heroisierten (Schöpfungs-)Akt scheint bis heute ungebrochen, denn dadurch öffnen sich jenseits von den jeweils aktuell gezogenen göttlichen, geistigen, traditionellen, nationalen, technologischen oder biologischen Grenzen der gesellschaftlichen Realität ständig neue „faszinierende“ Horizonte des Fortschritts.

Und so wird denn die Legende vom Künstler der aus der Unschuld kommt und die Welt verändert, auch heute noch bei jeder Gelegenheit und in den phantastischsten Varianten weitererzählt, und es liegt der Schluss nahe, dass der Künstler immer eine Legende bleiben wird.


© Peter Spillmann, 1999

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