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Was sucht Che Guevara in Tor Bella Monaca?
Es gibt kaum einen Grund nach <Tor Bella Monaca> zu fahren, denn dort gibt's eigenlich nichts interessantes: keine Kneipen, kein Kino und keine Partys. <Tor Bella Monaca> ist ein Viertel in der Peripherie von Rom. Im römischen Alltag ist <Tor Bella Monaca< ein stehender Begriff, der meistens etwas Negatives vermittelt. Bist du etwa aus <TBM>?
<Tor Bella Monaca> ist aus den Lokalspalten der römischen Zeitungen bekannt. Der Name steht für Jugendkriminalität, Vandalismus, Rechtsextremismus und Arbeitslosigkeit. Man soll bei einem Anstellungsgespräch möglichst nicht erwähnen, dass man in diesem Viertel wohnt, heisst es.
Aber auch in der Schweizer Zahnarztpraxis lässt <Tor Bella Monaca> grüssen: Das "Modeblatt" (23/98), das im Wartezimmer der Praxis ausliegt, zeichnet auch kein anders Bild: Die Fotografien der Reportage "Am Rand" sind streng in schwarz -weiss gehalten und suggerieren Betonwüste und grauen Alltag.
Und wie komme ich als Künstlerin ausgerechnet auf <Tor Bella Monaca>?
Als ich in meiner Arbeit mit der römischen Peripherie der 80er Jahre zu interessieren begann, lernte ich Gianni kennen. Gianni ist ein Soziologe der Gemeinde Rom. Er arbeitete damals in verschiedenen Vierteln am Aufbau der "laboratori di quartiere". Als er von meinem neuen Interessensfeld hörte, erzählte er mir von <Urban>, einem EU Projekt, dass die "Aufwertung" problematischer europäischer Vorstädte finanziert. <Urban> unterstützt Pläne für strukturelle Verbesserungen, die durch aktive Mitarbeit und Mitbestimmung der Bewohner aus den "problematischen Vierteln" und entsprechend ihrer Bedürfnissen entstanden sind. Fünfzig europäische Vorstädte sind an diesem EU Projekt beteiligt. Die grösste Intervention in Rom ist in <Tor Bella Monaca> geplant. Gianni gibt mir eine Kopie der Publikation "La città intelligente". Dort seien alle Informationen über die Methode des "planing for real", der Aufbau der "laboratori di quartiere" und alle nützlichen Telefonnummern zu finden.
Die Broschüre "La città intelligente" erklärt mir einiges über die konkrete Sachlage: Die Planung von <TBM> in den 80er Jahren hatte die Intention, mit den Bau von Sozialwohnungen die früher in diesem Gebiet illegal entstandenen Siedlungen urbanistisch zu erschliessen.
Die derzeitige Situation in <Tor Bella Monaca> hingegen wurde anders beschrieben: "Statt einer Aufwertung des Quartiers ist folgendes geschehen: Neben den typischen Problemen "spontaner" Siedlungen - schlechte Qualität des öffentlichen Raums, der Dienstleistungen und der Kommunikation mit der Stadt - sind heute auch die typischen Probleme der öffentlichen Grossüberbauungen des Sozialwohnungsbaus in <TBM> zu finden. In den letzten zehn Jahren nahmen die sozialen Konflikte immer mehr zu, da eine BürgerInnengemeinschaft angesiedelt worden ist, die nun ihr starkes soziales Unbehagen ausdrückt." (zitiert aus "La città intelligente").
Um nach <TBM> zu kommen fahre ich mit der alten Strassenbahn die Via Casilina entlang. Die Strassenbahn fährt rigoros 30 Stundenkilometer, was das Gefühl der weiten Reise in die Peripherie verstärkt. Ich habe meine Fotokamera dabei. Das Viertel ist riesig, unübersichtlich und grosszügig verteilt mitten in der Campagna Romana angelegt. Es besteht aus verschiedenen Wohnblöcken, die nicht mit Fussgänger- und Fahrradwegen miteinander verbunden sind. Die einzelnen Wohnblöcke werden mit Nummern bezeichnet.
Es ist Sommer, ich schaue mich im ganzen Viertel um, sitze dann bei Sonnenuntergang in der "Pineta", wo eine Familie einen improvisierten Getränkestand mit Grill errichtet hat und Jugendliche bewirtet, die sich dort versammeln.
Wenige Tage später nehme ich Kontakt mit der Gemeinde auf, dann mit der Person, die scheinbar für das "laboratorio di quartiere" in <Tor Bella Monaca> zuständig ist, dann mit der Università Roma 3, die auch an Urban beteiligt ist, und zuletzt mit dem "Spazio Culturale di TBM".Zu meinem Erstaunen werde ich von den unterschiedlichen Stellen immer wieder an Mario verwiesen. Also frage ich, wer denn Mario eigentlich sei: "Der Koordinator des Centro Sociale Tor Bella Monaca. Centro geschrieben wie "CHE", wie Che Guevara", lautet die Antwort.
Mario und ich sind zum Essen verabredet. Er hat mir die ganze Dokumentation der Arbeit im "Che"ntro Sociale mitgenommen. Ich erzähle ihm vom Stand meiner Recherchen und von den Fragen, die bei mir aufgekommen waren.
Mario berichtete, dass der Raum des "laboratorio di quartiere" zwar im Winter symbolisch bezogen worden sei, aber ein Treffen mit den BewohnerInnen von <TBM> hätte nie stattgefunden und der Workshop zur Planung der Interventionen in <Tor Bella Monaca> sei durch die Gemeinde noch gar nicht einberufen worden. Dieser Workshop hätte stattdessen bereits im "Che"ntro stattgefunden, in Zusammenarbeit mit der Universität Roma 3.
Diese Zusammenarbeit sei sehr positiv gewesen. Alle TeilnehmerInnen des Workshops waren sich von Anfang an einig über die Bedürfnisse und die nötigen Interventionen, die zu machen wären. Die so entstandenen Pläne seien dann durch StudentInnen überarbeitet worden. Aber so wie es aussehe könne die Universität sehr wahrscheinlich nicht am ausgeschriebenen Wettbewerb teilnehmen.
AL "CHE"NTRO della NOTIZIA <Urban> a che punto siamo?...eigenartig ist unser Land, alles ändert sich und doch bleibt alles wie es ist" (Susanne italienisch und deutsch zusammen ist nicht gut verständlich in einem Satz!), heisst es im ersten Satz der Quartierszeitung "Il giornalino di quartiere- Tor Bella Monaca News". Die Räumlichkeiten des "Che"ntro Sociale wurden vier Jahre zuvor von jungen Leuten besetzt.
Die Besetzung, wie in den meisten Fällen der centri sociali, fand vor dem Hintergrund der vollkommenen Abwesenheit des "Staates" und die Inkompetenz und das Desinteresse der Gemeindeverwaltung statt. Mario wurde von den jungen BesetzerInnen zum Projekt zugezogen, da er schon Erfahrungen in der Stadtteilarbeit hatte.
Laut Mario seien die sozialen Konflikte in <TBM> immer heftiger geworden, der Rechtsextremismus habe rasant zugenommen und bei den Gemeindewahlen habe"Alleanza Nazionale" immer mehr an Stimmen gewonnen. Die Situation sei für die Jugendlichen des Viertels unzumutbar geworden. Die BesetzerInnen wollten das nicht mehr einfach so hinnehmen und haben daher ein langfristig leerstehendes Gebäude besetzt. Seit etwa 6 Jahren arbeiten sie fast täglich meistens zu sechst im "Che"ntro.
So kommt also der "Che" in die römische Peripherie.
"Das "Che"ntro ist für alle offen. Auch alte Menschen erhalten Raum für ihre Tanzveranstaltungen", sagt Mario. Aber hauptsächlich konzentriert sich die Arbeit des "Che"ntro auf Kinder und Jugendliche. In <Tor Bella Monaca> wohnen 9'170 Kinder, die unter 9 Jahre alt sind, die Zahl der Jungen zwischen 15 und 34 Jahren beträgt 25'010 (ISTAT 1995). Trotz diesen Zahlen gibt es in <TBM> keine Möglichkeit die Freizeit sinnvoll zu gestalten. Die finanziellen Mittel vieler Familien sind zu gering.
Neben Computerkursen, einer Töpferwerkstatt und einem Musikraum, bietet das "Che"ntro auch Foto- und Graffitiworkshops an. Auch Konzerte werden am Wochenende organisiert. Während der Sommerferien werden Sommercamps in Zusammenarbeit mit nationalen und internationalen Institutionen veranstaltet, um den Jugendlichen zu ermöglichen in ein anderes Land zu fahren oder um im eigenen Viertel Jugendliche anderer Herkunft kennenzulernen.
Vermehrt kämpfen die Leute vom "Che"ntro auch gegen den Schulabbruch. Fast 20% der Jugendlichen in <Tor Bella Monaca> führen die obligatorische Grundschule nicht zu Ende. Viele seien gar nicht motiviert die Schule zu besuchen, denn die Schule ist für sie realitätsfremd. "Die Jugendlichen erleben den Alltag hier ganz anders als Gleichaltrige in anderen Quartieren," sagt Mario. Das "Che"ntro hat daher begonnen Strategien zu entwickeln, um die Schule der Alltagsrealität wieder anzunähern.
Die BesetzerInnen vom "Che"ntro haben den LehrerInnen einige Projekte vorgelegt, die angenommen wurden. Nun bieten sie in der Grundstufe Muralesworkshops und in der Mittelstufe Graffitiworkshops an. Sie haben das "Tor Bella Monaca Cineforum" initiiert, das Filmprogramm ist auf die Situation im Viertel zugeschnitten. Auch Eltern können an den Projektionen und Podiumsgesprächen teilnehmen. Ein neueres Projekt des "Che"ntro ist die Zeitschrift "Il giornalino di quartiere- Tor Bella Monaca News", die in Zusammenarbeit mit anderen Vereinen und mit den Schulen des <TBM> monatlich erscheint. Die "Tor Bella Monaca News" sind kostenlos am Kiosk des Viertels aber auch in den Nachbarschaften zu beziehen.
Mario berichtet, dass sie in der Drogenarbeit in der Zwischenzeit bereits auch ein ganzes Stück weiter gekommen seien. Sie haben das Vertrauen der Betroffenen langsam gewinnen können, vor allem durch die Strassenarbeit. Seit einigen Jahren würde zweimal wöchentlich die "Cooperativa Aurora" ihre Beratung im "Che"ntro an bieten.
Mario ist sichtlich stolz auf die Arbeit, die sie geleistet haben, den sie haben tatsächlich viele Erfolge in der Stadtteilarbeit vorzuweisen. Auch die umfangreiche Pressemappe zeugt von der Bekanntheit, die sie in Italien besitzen. Und sogar zu Fernsehsendungen sind sie immer wieder eingeladen worden.
Ich bin beeindruckt. Vor allem über die Kreativität und die Kompetenz, mit der sie die schwierige Situation in <Tor Bella Monaca> angehen. Sechs Menschen, die in der römischen Peripherie in der totalen Abwesenheit des Staates, die Stellung bewahren, ohne Lohn dafür zu bekommen und ohne zu finanziellen Mitteln Zugang zu haben.
Laut Mario bezahlt die Gemeinde oder die Stadt die Materialkosten der eingereichten Projekte an Hand eines Budgetplanes. Natürlich werden alle Projekte unterstützt, denn so billig kommt die Verwaltung sonst nie zu einer relativen Ruhe in <Tor Bella Monaca> und Alternativvorschläge gibt es nicht. Viele Veranstaltungen kommen trotz knapper Finanzierung zustande. NachbarInnen und SympathisantInnen sind gerne bereit ihre Dienste und die eigene Infrastruktur meist kostenlos anzubieten.
Mario arbeitet selbständig als Anstreicher und eine der Frauen studiert, die anderen Mitglieder des "Che"ntro finanzieren ihr Leben durch Gelegenheitsjobs. Alle investieren den grössten Teil ihrer Energie und ihrer Freizeit im "Che"ntro. Ich empfinde diese Situation als ungerecht und unhaltbar. Nicht zuletzt, weil die Verwaltung und einige politische Gruppierungen im Viertel sinnlos Geld verschleudern, ohne damit nur die geringste Verbesserung der Lebensqualität und der Lebensbedingungen erreicht zu haben. Dieses Geld wäre in die Arbeit des "Che"ntro besser investiert. Mario ist aber ganz und gar nicht mit mir einverstanden. Er ist stolz, dass sie es gemeinsam geschafft haben, ohne Fremdhilfe, und dass sie nicht auf Geldgeber angewiesen sind, mit denen sie ideologisch nicht auf gleicher Ebene stehen.
Als ich Mario Monate später wieder treffe, erzählt er mir, er sei im Nachbarviertel als Drogenberater angestellt worden, jeweils einige Stunden am Nachmittag. "Stell dir vor, Mario wird bezahlt um Mario zu sein!", sagt er immer noch sichtlich erstaunt.
Durch die <Urban> Finanzierungen soll auch das "Che"ntro Sociale jetzt teuer umgebaut werden. Weitere Nachrichten über das "Che"ntro, über Tor Bella Monaca und über <Urban> habe ich zur Zeit nicht. Aber vielleicht werden mir bald die BesetzerInnen des "Che"ntro etwas Neue erzählen. Vielleicht darüber, wie das Leben "nach <Urban>" bei ihnen in <TBM> weitergeht.
Susanna Perin <perin@artefact.li> |
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